Feinde der Krone
konnte, dass Gott einen Menschen auf alle Zeiten dafür verdammte, dass er in einem kurzen Augenblick der Schwäche unter etwas zusammengebrochen war, das sich als zu viel für seine Leidensfähigkeit erwiesen hatte.
Die Dinge ließen sich nicht ungeschehen machen. Wray lebte nicht mehr. Am Ausmaß der mit seinem Tod verbundenen Sünde konnte niemand etwas ändern. Sofern die Kirche alles vertuschte und ihm ein ordentliches Begräbnis ausrichtete, würde das zwar seine Ehre vor den Augen der Welt wieder herstellen, aber an der Wahrheit nichts ändern.
Wem war sie jetzt in erster Linie verpflichtet? Wie weit
musste sie ihren Mann auf dem Weg der Feigheit begleiten? Gewiss doch nicht bis zum Ende. Man war es keinem Menschen schuldig, mit ihm unterzugehen. Dennoch war sie sicher, dass er es als Verrat ansehen würde, wenn sie ihn verließe, wann auch immer.
Wusste er, wer Maude Lamont getötet hatte? War es denkbar, dass er selbst der Täter war? Sicherlich nicht! Nein! Er war oberflächlich, aufgeblasen, herablassend und so ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, dass er weder von den Freuden noch dem Leid anderer Menschen etwas merkte. Außerdem war er feige. Nie hätte er offen gesündigt oder in einer Weise gegen die Gesetze verstoßen, die es ihm nicht ermöglichte, das auf immer verborgen zu halten. Nicht einmal er hätte den Mord an Maude Lamont rechtfertigen können, ganz gleich, womit sie ihn erpresst haben mochte.
Aber möglicherweise kannte er den Täter und den Grund für die Tat. Die Polizei musste die Wahrheit erfahren. Isadora musste mit jemandem sprechen, den sie kannte. Auch ohne einem Fremden die Dinge erklären zu müssen, wäre alles quälend genug. Am besten dürfte es sein, wenn sie Cornwallis aufsuchte. Er würde halbwegs Verständnis aufbringen.
Nachdem sie sich entschieden hatte, zögerte sie nicht länger. Was sie trug, spielte so gut wie keine Rolle. Wichtig war ihr nur, dass sie ihren Verstand zusammennahm, um die Dinge klar darzustellen, und lediglich die Fakten berichtete, soweit sie ihr bekannt waren. Die Folgerungen daraus mochte dann er ziehen. Sie durfte weder ihren Zorn noch ihre Verachtung zeigen und auch nicht die Bitterkeit, die in ihr aufstieg. Auf keinen Fall durfte sie sich von ihren Empfindungen beeinflussen lassen. Sie musste ihm von Angesicht zu Angesicht berichten, nichts weiter und ohne den kleinsten verräterischen Hinweis auf das, was sie oder er empfinden mochte.
Der stellvertretende Polizeipräsident befand sich zwar in seinem Büro, war aber nicht allein. Sie fragte, ob sie warten könne, und wurde knapp eine halbe Stunde später von einem Wachtmeister nach oben geführt. Als sie eintrat, stand Cornwallis in der Mitte seines Büros.
Der Polizeibeamte schloss die Tür hinter ihr, und sie blieb auf der Schwelle stehen.
Cornwallis öffnete den Mund, um etwas zu sagen, die übliche Begrüßungsformel, damit er Zeit hatte, sich auf ihre Anwesenheit einzustellen, doch bevor er auch nur ein Wort herausgebracht hatte, fiel ihm die Qual in ihren Augen auf.
Er tat einen halben Schritt auf sie zu. »Was führt Sie her?«
Sie blieb reglos stehen, wahrte den Abstand zwischen ihnen. Die Sache erforderte große Umsicht, und sie durfte keinen Augenblick lang die Beherrschung verlieren.
»Ein Vorfall von heute Morgen lässt mich vermuten, dass ich weiß, wer der dritte Besucher Maude Lamonts am Abend ihres Todes war«, begann sie. »Vermerkt hat sie ihn mit einer kleinen Zeichnung, die in etwa wie ein umgedrehtes f mit einem Halbkreis darüber aussieht.« Jetzt musste sie weitersprechen, sie hatte sich jede Möglichkeit zum Rückzug abgeschnitten. Was würde er von ihr denken? Dass sie sich ihrem Mann gegenüber illoyal verhielt? Vermutlich sah er das als äußerst verwerflich an. Man verrät Angehörige nicht, ganz gleich, unter welchen Umständen. Sie sah ihn aufmerksam an, konnte seinem Gesicht aber nichts anmerken.
Er sah zu einem Sessel hin, als wolle er sie auffordern, Platz zu nehmen, überlegte es sich aber wohl anders. »Was ist geschehen?«, fragte er.
»In einer Pressemitteilung der Polizei heißt es, Maude Lamont habe gewusst, wer dieser Mensch war, und ihn erpresst«, gab sie zur Antwort. »Weiter heißt es darin, in ihrem Haus in der Southampton Row gebe es Papiere, die zusammen mit den Angaben, die Mister Pitt von Reverend Francis Wray bekommen hat, auf die Identität dieses Mannes hinweisen.« Als sie Wrays Namen sagte, wurde ihre Stimme leiser,
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