Feinde der Krone
die Blätter raschelnd zu Boden fielen.
»Aber du erwartest doch in einer halben Stunde Reverend Williams!«, gab sie zu bedenken. »Er kommt eigens von Brighton.«
»Sag ihm, er soll warten.« Er machte eine abwehrende Handbewegung.
»Wohin willst du?« Auch sie war aufgesprungen. »Reginald! Wohin gehst du?«
»Nicht weit«, sagte er und war schon zur Tür hinaus. »Sag ihm, er soll warten.«
Es war sinnlos, weiter in ihn zu dringen. Er würde es ihr ohnehin nicht sagen. Irgendetwas in der Zeitung musste diese panische Reaktion ausgelöst haben. Sie bückte sich, hob sie auf und begann mit der Suche auf der zweiten Seite, die er vermutlich gerade gelesen hatte.
Sie sah es fast sofort: Nach den polizeilichen Ermittlungen im Fall Lamont hatten sich bei der letzten Séance des Mediums im Haus an der Southampton Row drei Klienten befunden. Die Namen zweier von ihnen, hieß es, habe sie in ihrem Tagebuch vermerkt, während sich statt des dritten Namens eine kleine Zeichnung darin befunden habe, eine Art Piktogramm oder Kartusche – etwa so wie ein umgedrehtes f unter einem Halbkreis. Isadora erkannte darin einen Bischofsstab unter der Andeutung eines Hügels – Underhill.
Der Polizei zufolge fand sich in Maude Lamonts Papieren ein Hinweis darauf, dass sie gewusst hatte, um wen es sich bei ihrem dritten Besucher handelte, und sie ihn ebenso erpresst hatte wie die beiden anderen. Sie erklärte, man stehe kurz vor einem Durchbruch und werde, wenn man die Tagebücher im Licht dieser neuen Erkenntnis noch einmal durchgehe, zweifellos feststellen, wer sich hinter der Kartusche verbarg. Damit wäre es dann möglich, den Mörder zu fassen.
Ihr Mann hatte sich also auf den Weg zur Southampton Row gemacht. Das war ihr so klar, als wäre sie ihm dorthin gefolgt. Offenbar hatte er an den Sitzungen jener Maude Lamont teilgenommen, wohl in der Hoffnung, dort irgendeinen Beweis für ein Leben nach dem Tode zu finden, dafür, dass seine Seele in einer für ihn nachvollziehbaren Weise fortleben würde. Er wollte sicher sein, dass ihn nicht das Ende erwartete, sondern lediglich eine Veränderung. Ein ganzes Leben christlicher Lehre hatte nicht vermocht, einen festen Glauben in ihm zu gründen. So hatte er sich in seiner Verzweiflung an eine Spiritistin gewandt, mit allem, was dazu gehört: Tischrücken, Levitation und Ektoplasma. Weit mehr noch und entsetzlicher aber als an Zweifel und Schwäche, die sie nur allzu gut verstehen konnte, hatte er offenbar unter Angst gelitten, unter seelentötender Einsamkeit, war in den tiefen Abgrund der Verzweiflung gestürzt. All das hatte er vor ihr verborgen gehalten und sich nicht einmal nach Maude Lamonts Ermordung dazu bekannt. Er hatte zugelassen, dass man Francis Wray verdächtigte, der geheimnisvolle Dritte zu sein, und dessen wie jetzt auch Pitts Ruf zugrunde richtete.
Der Zorn und die Verachtung, die sie ihm gegenüber empfand,
verursachten ihr einen alles verzehrenden Schmerz, der in ihrer Seele und ihrem Körper brannte.
Sie setzte sich auf seinen Stuhl; die noch aufgeschlagene Zeitung fiel auf den Tisch. Jetzt war der Nachweis geführt, dass Francis Wray nicht der geheimnisvolle Dritte sein konnte, allerdings zu spät, um ihn vor Kummer zu bewahren oder vor der Einsicht, dass seinem Leben in den Augen aller, die ihn liebten und schätzten, der Sinn genommen war. Vor allem aber war es zu spät, um ihn vor der unwiderruflichen Handlung zu bewahren, mit der er sich das Leben genommen hatte.
Würde sie Reginald je verzeihen können, dass er so entsetzlich feige gewesen war und all das zugelassen hatte?
Was sollte sie jetzt tun? Reginald war auf dem Weg zur Southampton Row, zweifellos, weil er sehen wollte, ob er das Beweismaterial, das ihn mit der Sache verknüpfte, finden und vernichten konnte. Welches Maß an Loyalität schuldete sie ihm?
Er stand im Begriff, etwas zu tun, was sie für zutiefst falsch hielt. Es war heuchlerisch und widerwärtig, aber damit richtet er eher sich selbst zugrunde als andere. Weit schlimmer war, dass er nichts unternommen hatte, um den Verdacht von Wray zu nehmen, der diesen so lange bedrückt hatte, bis er sich selbst das Leben genommen hatte. Er hatte ihm zu all dem Kummer, den der Mann ohnehin zu tragen hatte, noch mehr aufgebürdet, bis er schließlich unter der Last zusammengebrochen war. Das hatte seinen Untergang bedeutet, und zwar möglicherweise nicht nur in diesem Leben, sondern auch im jenseitigen – obschon sie sich nicht vorstellen
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