Feinde kann man sich nicht aussuchen
mir ein bißchen von Lost
Hope, Deputy. Wie ist diese Stadt so?«
Er nahm einen in Papier verpackten
Zahnstocher aus der Brusttasche seines Uniformhemds und befreite ihn aus seiner
Umhüllung. Steckte ihn in den Mund und kaute darauf herum, während er
überlegte. »Das erste Wort, das mir einfällt, ist ›habgierig‹. Diese Stadt war
schon damals habgierig, während des Silber-Booms, und dann während der
Depression, als die dort in Washington mehr oder weniger vergessen hatten, daß
es uns gab; aber richtig ausgebrochen ist die Habgier erst, nachdem Ihr
T. J. Gordon hier das vollbracht hat, was manche Leute das große Wunder nennen.«
Er hielt inne, Nachdenklichkeit in den
hellen Augen. »Das zweite Wort ist ›rabaukig‹. Früher waren es die Bergleute.
Heute sind es die Besoffenen. Unsere Hauptarbeit hier besteht darin, sie daran
zu hindern, auf der Hauptstraße herumzulungern, sich in ihre Autos zu setzen
und Schlägereien anzufangen.« Er nahm den flachgekauten Zahnstocher aus dem
Mund, betrachtete ihn und steckte ihn wieder zwischen die Zähne. »Und das
dritte Wort ist ›mies‹.«
»Inwiefern?«
»Hängt mit der Habgier zusammen. Klar,
man könnte sagen, jeder hat sein mieses kleines Geheimnis oder auch zwei: der
Mann will nicht, daß seine Frau von dem jungen Ding erfährt, das er nebenbei
noch hat; die Frau will nicht, daß ihr Mann von dem Schnaps erfährt, den sie
sich reinkippt, wenn er nicht da ist. Aber das sind die stinknormalen kleinen
Miesheiten. Ich rede von Leuten, die aus reiner Profitgier miese Dinge tun.«
»Zum Beispiel?«
»Geht um viel Geld hier in dieser
kleinen Stadt, war immer schon so. Vielleicht nicht um Riesensummen, gemessen
an Vegas oder Kalifornien, aber für die Leute, die sich hier niedergelassen
haben, ist das oft ein Vermögen. Die Wüste dort draußen ist ein ungeweihter
Friedhof, schon seit damals die erste Silberader entdeckt wurde. Wenn man weiß,
wonach man gucken muß, kann man keine Meile weit gehen, ohne über irgendwelche
Gräber zu stolpern — und manchmal sind sie noch ziemlich frisch.«
»So was ist hier an der Tagesordnung?«
Er nickte, auf seinem Zahnstocher
kauend.
»Sagten Sie nicht, Sie hätten hier
hauptsächlich mit Betrunkenen zu tun?«
»Und mit vermißten Personen, hätte ich
dazusagen sollen. Manche verschwinden freiwillig, andere... wer weiß? Die Leute
hier haben die Angewohnheit, sich einfach in Luft aufzulösen.«
»Und was tun Sie dann?«
»Kommt drauf an, wie dringend jemand
darauf besteht, daß wir sie finden. Wir nehmen Protokolle auf, starten
Hubschrauber-Suchaktionen. Einmal hatten wir sogar eine Hellseherin hier, die
den reichen Gatten einer Klientin aufspüren sollte.«
»Und hat sie ihn gefunden?«
Westerkamp grinste. »Was glauben Sie?«
»Noch mal zu den Gordons — kannten Sie
sie beide?«
»Sie habe ich nie getroffen; sie war
nicht lange genug hier. Aber ich kannte T. J. und den Rest der Truppe. Ihn
kannte jeder hier — ging gar nicht anders. Er hatte die Angewohnheit, überall
rumzupirschen, zu jeder Tages- und Nachtzeit mit den Leuten zu reden. Um an die
Vergangenheit von Lost Hope ranzukommen, hat er gesagt. Ein Wunder, daß ihn
keiner umgelegt hat.«
»Gäbe es da jemand bestimmten —
jemanden, der ernstlich sauer auf ihn war?«
»Bloß die halbe Stadt.«
»Sauer genug, um eine Terrorkampagne
gegen ihn zu starten?«
Der eine Mundwinkel des Deputy zuckte;
meine Frage hatte an eine Erinnerung gerührt — oder an einen Nerv. »Ich kann
keine Namen nennen, Miss McCone. Wär nicht recht, weil es immer nur ein Teil
der Wahrheit ist. In meinem Job kriegt man allerhand Klatsch zu hören, aber es
ist nie die ganze Geschichte. Dem Deputy teilen die Leute Dinge mit, die sie
ihren besten Freunden nicht erzählen würden. Es ist mein Prinzip, nichts von
dem weiterzusagen, was ich höre.«
Das konnte ich ihm nicht verübeln. »Na
ja, ich schätze, das reicht erst mal. Sind Sie damit einverstanden, daß ich
mich mit der Geschichte der Sanierung von Lost Hope beschäftige? Und mit Leuten
rede, die davon betroffen waren?«
Er grinste schief. »Nett formuliert —
klingt wie eine Forschungsarbeit im Auftrag der Gesellschaft für
Heimatgeschichte.«
»Diese Sanierung ist Geschichte,
Deputy.«
»Genau. Und ich hoffe, sie bleibt es.«
»Soll heißen?«
Er schüttelte den Kopf und erhob sich.
»Das soll gar nichts heißen, Miss McCone. Ist nur so ein ungutes Gefühl. Um die
Wahrheit zu sagen, ich bin heute abend ziemlich
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