Feinde kann man sich nicht aussuchen
wohl ausgesehen haben mochte. Ich
fragte mich, warum es nur ein einziges Foto von ihr gab — eine verblichene und
vergilbte Studio-Aufnahme, die sie in ihrem Sonntagsstaat zeigte, einen
Rosenkranz in der Hand, für jeden, der nichts von ihr wußte, eine fromme
katholische Matrone. Ich nahm an, daß ich zeitlebens nach den Antworten auf
diese Fragen würde forschen müssen.
Die grauhaarige Frau hatte jetzt den
Ohrring-Verkauf abgewickelt, und die Kundin ging. Ich trat an den Ladentisch.
»Miss Walker?«
Sie stand mit dem Rücken zu mir und war
mit einem Kreditkarten-Beleg beschäftigt. »Ja, was kann ich für Sie tun?« Sie
wandte sich mir zu; ihr rundes Gesicht wurde blaß. Ihre Augen wanderten von
meinem Gesicht zu meinem Cape und wieder zurück. Als sie mich stirnrunzelnd
ansah, wurde mir klar, daß sie einen Moment lang gedacht hatte, ich wäre Anna
Gordon.
Ich stellte mich vor und erklärte, ich
wolle mit ihr über Anna reden. Sie entspannte sich etwas und preßte die Hand
über dem Herzen auf die Brust. »Dieses Cape«, sagte sie, »ist das von dem
Mädchen, das auch Annas Cape gemacht hat?«
Ich nickte, weil ich keine Lust hatte,
ihr zu erzählen, daß es sich um Annas Cape handelte; ich wollte einer Fremden
nicht erklären müssen, wie ich dazu gekommen war. »Können wir uns ein bißchen
über sie unterhalten?« wiederholte ich.
»Warum?«
Ich nahm eine meiner Karten heraus und
reichte sie ihr. »Annas Mann ist ein Klient von mir.«
Sie studierte die Karte und legte sie
dann auf den Ladentisch. »Er will, daß Sie herausfinden, wer sie umgebracht
hat?«
»Nicht direkt. Das untersucht die
kalifornische Polizei. Mr. Gordon hat mich noch vor Annas Tod angeheuert wegen
gewisser Probleme in Zusammenhang mit seinem derzeitigen Sanierungsprojekt.
Deshalb bin ich hier.«
»Warum fragen Sie dann nach Anna?«
»Wir waren befreundet. Ihr Tod hängt
vielleicht mit diesen Problemen zusammen.«
»Haben Sie eine Lizenz für Nevada?«
O Lady, mach mir keine Scherereien!
»Normalerweise erkennt ein Staat die Lizenz aus einem anderen an.«
»Müßten Sie sich nicht bei den hiesigen
Polizeibehörden melden?«
»Das habe ich vor.«
»Das Sheriff-Büro ist am Südende der
Stadt, gegenüber von der LKW-Tankstelle. Der zuständige Deputy heißt Chuck
Westerkamp.«
Warum dieses Sträuben? »Miss Walker,
ich war noch am Tag ihres Todes mit Anna zusammen. Wenn wir über die Zeit reden
könnten, die sie damals —«
Sie nahm den Hörer eines Telefons ab,
das unter dem Ladentisch stand.
»Wen wollen Sie anrufen?«
»Westerkamp. Ich werde ihm entweder
sagen, daß Sie auf dem Weg zu ihm sind, oder Anzeige wegen Belästigung
erstatten. Was ist Ihnen lieber?«
»Brenda hat einen kleinen Stich, aber
sie meint es gut.«
Chuck Westerkamp lehnte sich in seinem
quietschenden Drehstuhl zurück. Sein winziges Büro war eiskalt; es zog so
heftig durch die Alurahmen-Fenster der Containerbaracke, daß die Rollos
wackelten. Die Außenstelle des Sheriff’s Department von Esmeralda County
residierte in dreien solcher Baracken auf einem zugigen Plateau am Ortsrand.
Gegenüber lag eine riesige LKW-Tankstelle, wo mächtige Sattelschlepper im
Dunkeln rasteten wie schlafende Mastodons. Andere warteten schnaubend an den
Zapfsäulen und donnerten dann davon in die urzeitliche Wüstennacht. Ich war
zuerst einen Moment neben dem Landrover stehengeblieben, um zuzusehen, wie ein
Lastzug auf den Highway zurückrumpelte und südwärts kroch; als ihn das Dunkel verschluckt
hatte, war ein Gefühl der Einsamkeit über mich gekommen, und um mich zu
trösten, hatte ich mich fester in Annas Cape gewickelt.
Jetzt hockte ich auf dem
Metall-Klappstuhl, den Westerkamp mir angeboten hatte, und fragte ihn: »Was
glauben Sie, warum Miss Walker so empfindlich auf das Thema Anna Gordon
reagiert?« Der Deputy, ein drahtiger, sonnengebräunter Mann mit leicht
schütterem weißem Haar, sagte achselzuckend: »Viele Leute hier in der Stadt
haben allen Grund, empfindlich zu reagieren, wenn es um die Gordons geht.«
»Aber ich denke, Miss Walker war mit
Anna befreundet. Sie und ich, wir stehen doch auf derselben Seite — oder
sollten es zumindest.«
»Ich sagte ja schon, Brenda hat einen
kleinen Stich. Guckt zuviel fern, wenn Sie mich fragen. Vergeht keine Woche,
ohne daß sie bei uns anruft, weil sie meint, daß sich irgendein
Gewaltverbrecher, den sie in ›Ungelöste Kriminalfälle‹ gesehen hat, hier
bei uns in Lost Hope versteckt.«
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