Feindesland
im Alleingang:
»Man findet ja kaum hier raus, was? Also alleine hätte ich das nie gefunden. Berlin ist ja so groß wie ein ganzer Staat, mein lieber Scholli! Dagegen kommt mir unser Köln immer noch übersichtlich vor. Obwohl sie ja jetzt überlegen, auch noch Düren einzugemeinden. Hab ich gelesen. Das sind nur so Pläne für die Zukunft, wahrscheinlich, weil Bochum und Essen und die ganzen Ruhrpottstädte auch irgendwann zusammengehen. Ich find das ja nicht gut, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Irgendwo sollte doch jeder Ort seine Eigenarten behalten. Man sieht ja schon hier, wie anders jedes Viertel aussieht. Oder? Man fährt durch Berlin und denkt sich, man hätte mehrfach die Stadt gewechselt. Ich habe mal eine Fahrradtour durch ganz NRW gemacht, da war das auch so beim Wechsel von Solingen nach Linden. Die beiden Orte gingen einfach so ineinander über, aber man hat sofort gespürt, das etwas anders war. Der Pana war da noch dabei, da war der gerade mal zwölf.«
»Mutter«, sagt Susanne und zeigt mit der Gabel in die kauende Runde, »die Leute kennen den Pana doch gar nicht.«
Ihre Mutter schweigt für eine Sekunde, was Caterinas Mama nutzt, um das Wort zu ergreifen: »Ich weiß, ihr habt viel zu tun, aber habt ihr euch denn schon mal in der Kunstszene hier umgesehen? Der Olafur Eliasson hat doch eine Dozentur an der UdK seit letztem Jahr, der macht da mit dem Rennert das Institut für räumliche Experimente. Der Eliasson, das muss man sich mal vorstellen! Der hat in New York vier künstliche Wasserfälle installiert.«
»Die Firma hier ist auch ein räumliches Experiment«, sagt Caterina, und Hartmut fügt hinzu: »18 Wagen in nicht mal sechs Monaten. Über hundert Presseartikel. Fernsehbeitrag mit Gaststar Ulli Heinrich.«
»Wann kommt der jetzt eigentlich?«, fragt Hartmuts Mutter, und Hartmut erwidert: »Weiß nicht. Ist schon wieder geschoben worden.«
»Erst bezahlen sie 57 Drehleute, weil jeder aus gesetzlichen Gründen nur zwei Stunden am Tag arbeiten darf, und dann senden sie's nicht.«
»Ja, Mutter, es ärgert mich auch«, sagt Hartmut. Die Kerzen flackern. In der Anlage läuft Donald Fagens »The Nightfly«. »Du siehst aber nicht verärgert aus«, sage ich. Hartmut lächelt: »Ich werde Vater ...«
Seine Mutter legt beide Hände auf seine: »Das ist so schön!« Dann sieht sie Susanne an, die neben ihr sitzt, und berührt sanft ihren Bauch. »Das ist so schön!«
»Aber ein paar Sorgen macht man sich schon«, sagt Susannes Mutter und fügt hinzu: »Entschuldigt bitte, aber dieses Viertel hier wirkt irgendwie, ich weiß nicht ... gefährlich.«
»Ach waaas!!!«, rufen Hartmut und ich und winken dabei gleichzeitig ab, während wir uns nach hinten lehnen und mit dem Kopf wackeln. Das war ein wenig zu eifrig.
»Das Leben ist gefährlich«, sagt Susanne, »und es endet immer mit dem Tod.«
»Jetzt mach keine Witzchen, Susanne«, sagt ihre Mutter. »Mir ist das ernst. Oder machen Sie sich etwa keine Sorgen?«
»Doch«, sagt Hartmuts Mutter sehr schnell, und Caterinas Eltern fallen mit ein. Nur meine Mutter und Hartmuts Vater schweigen.
»Wir sind hier gut aufgehoben und sicher«, sagt Hartmut und gießt seiner Mutter Weißwein nach.
Yannick kommt herbeigelaufen und streift mir um die Beine. Er schnurrt so laut, dass der ganze Tisch vibriert und die Gläser wackeln. Er hat ja auch recht. Wir gründen eine Familie, wir machen Geld, wir tischen gutes Essen auf und wir dürfen dabei zusehen, wie sich nach Jahren des gemeinsamen Lebens endlich auch unsere Eltern kennenlernen.
Ich fühle mich aufgehoben.
Da ertönt der Alarm.
Hartmuts Mutter zuckt zusammen und reißt die Hände nach oben. Die Tür geht auf, und Veith brüllt: »Männer mit mir, Frauen in den Keller!«
»Wir haben keinen Keller!«
Unsere Eltern springen auf, egal, ob Frauen oder Männer, und laufen mit uns nach vorn zu den schusssicheren Plexiglasfenstern des Bürotraktes, gegen die vor ein paar Monaten der Stein der Russen geflogen ist. Was sie vor den Fenstern sehen, verschlägt auch uns die Sprache. Ein paar Dutzend Neonazis versuchen, durch das Tor auf den Hof zu drängen. Sie brüllen schwachsinnige Parolen. Unter ihnen ist der Mann mit dem Schnauzbart, der damals bei unserer Eröffnungskonferenz unsere Angestellten fotografierte und der mir gleich verdächtig vorkam. War mein Gespür doch richtig. Man darf niemandem trauen.
Die Nazis branden an das halbaufgestoßene Tor wie schmutzige Elbwellen an
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