Feindesland
lehnt er ab, weil er sich verausgabt hat und nur noch ins Bett will. Er hat nichts mehr mit dem trotzigen Biest zu tun, das noch vor einem halben Jahr im Schillerpark mit seiner Plastikbong auf der Bank saß. Alle Anwesenden warten einen Moment, schauen, verlieren sich mit den Augen in den vielen Details und jubeln dann los. Sie klatschen. Sie feiern. Samir hat das »Heavy Metal Taxi« vollendet, unser festes Spezialfahrzeug für die Freunde lauter Töne. Auf dem Wagen sind Motive klassischer Plattencover verarbeitet. Der elektrische Stuhl von Metallicas »Ride The Light-ning«, das Pikass von Motörhead oder der Totenkopf von Slayers »Reign In Blood«. Ferner die Gabeln, die auf »Blackout« von den Scorpions die Augen zerstechen, Iron Maidens Maskottchen Eddy, aber auch ein paar speziellere Sachen wie der Teufelskopf des »Don't Break The Oath«-Covers von Mercyful Fate oder die Bestie von Flotsam & Jetsams »Doomsday For The Deceiver«.
Susanne ist im siebten Monat schwanger, das Metal-Taxi ist unser 18. Auto, und im Büro hat Mario bereits den 100. Artikel gerahmt, der über MyTaxi erschienen ist. Es läuft perfekt. So perfekt, dass ich jeden Morgen mit der Angst aufwache, ob die losen Enden, die der Russe einfach liegengelassen hat, nicht doch noch als geknotete Peitschenschwänze zu uns zurückkehren.
»Eigentlich pervers, dass selbst dieses Auto ein spritfreies Erdgasmodell ist, oder?«, sagt Samir. »Eigentlich mussten wir mal hingehen und dem Beispiel von Mr. Lifter folgen.«
»Wem?«
»Ein Kreuzberger Rapper. War bislang recht bedeutungslos, hat sich aber einen Namen als Rekordhalter des Anti-Highscores im BürgerVZ gemacht. Er führt dort mit wahnsinnigen zwei Millionen Minuspunkten. Das muss man sich mal vorstellen! Das Moralministerium bescheinigt diesem Mann somit offiziell, der übelste aller Bad Guys des deutschen Volkes zu sein. Zwei Millionen Miese! Der Mann ist ein Held geworden, seine erste reguläre Single bei einer großen Plattenfirma läuft im Netz rauf und runter. Sie heißt >Ich pust dich weg!<. Im Video werden alte Benzin- und Diesel-Autos gezeigt, wie sie guten alten Qualm auspusten. So coole 20-Liter-Fresser: Chevrolet, Mustang, Hummer ...«
Hartmut und ich sehen Samir an wie Männer, die 1955 eingefroren wurden und weder die Beatles noch die Stones noch Nirvana mitgekriegt haben. Wir müssen uns das Video mal anschauen. Wir drehen uns um, gehen auf das Büro zu, um genau das zu tun, und begegnen Susanne, die - einen beachtlichen Bauch vor sich hertragend - mit dem Telefon in der Hand derart fassungslos vor uns steht wie sonst nur Bree aus »Desperate Housewives« vor ihren Freundinnen.
Susanne zeigt auf das Telefon. »Unsere Eltern. Sie kommen uns besuchen. Morgen!«
Wir brauchen einen Moment, bis diese Information verarbeitet werden kann. Wir leben immer noch aus Kartons. Hartmut und Susanne benutzen zwar mittlerweile ein richtiges Bett, aber immer noch im Kinderzimmer. Die Büros und Werkstätten sehen aus, wie Arbeitsplätze eben aussehen, wenn man nie Zeit zum Aufräumen hat, weil der Erfolg täglich wächst und man nun mal nicht zum Aufräumen anhält, wenn man mit ihm Schritt halten will.
Susanne wird kurzatmig. Die Ankunft der Eltern, die uns eigentlich Freude bereiten sollte, lässt sie fast kollabieren. Hartmut stützt sie und sagt zu mir: »Mach einen Wagen fertig. Wir fahren jetzt erst mal zum Üben!«
»Aber nein«, sagt Susanne, »nix üben, wir müssen aufräumen, Essen planen, Programm. Unsere Eltern kommen doch! Ich krieg Panik!«
»Gerade drum müssen wir jetzt zur Herrn Chang. Los, schnell, hol das Auto!«
Caterina erscheint in der Tür und sagt: »Fahr die beiden. Ich regele das.«
»Wirklich?«, frage ich.
Sie nickt. Sie hat wohl einen Plan.
Ich packe meinen Freund und seine panische Frau in den Heavy-Metal-Wagen und sause, so schnell ich kann, Richtung Wannsee.
»A E I O U, A E I O U, A E I O U ...«
Das Wehensingen klingt wie eine Geisterbeschwörung. Die Vokale unseres Alphabets, schnell gesungen in dieser Reihenfolge, ergeben eine hypnotische Wellenbewegung, die einen - lässt man sich darauf ein — nach wenigen Minuten vollkommen in Trance versetzt. Der wellenhafte Klang ist der Sinn der Übung, denn das Wesen der Wehe ist die Welle, und diese soll sowohl die werdende Mutter wie auch der zukünftige Vater mit kraftvoll gesungenen Vokalen begleiten. Bei der Geburt werden Hartmut und Susanne dazu gemeinsam im warmen Wasserbecken sitzen. Zur
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