Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
die Schulter des
Kaufmanns an. Nach einem Augenblick sagte er: »Das wird
schon wieder.«
»Warum helft Ihr mir?«, fragte der Mann. »Ich bedanke
mich herzlich für die Rettung, aber warum tut Ihr das?«
Caleb nickte in Richtung Talon, der hinten im Wagen neben dem Verwundeten hockte. »Ich fürchte, mein junger
Freund hier verfügt über so etwas wie Anstand. Sieht aus, als
hätte er etwas gegen Mord.«
»Dann danke ich den Göttern, dass Ihr beide vorbeigekommen seid.«
»Fahren wir weiter nach Latagore«, sagte Caleb. »Ihr
könnt neben mir auf dem Bock sitzen.«
»Ich bin übrigens Dustin Webanks, Kaufmann aus Olasko.
Ich war mit meinem Partner auf dem Weg nach Latagore, um
dort Holz zu kaufen.«
»Und diese beiden Söldner haben versucht, Euch Euer
Gold abzunehmen.«
»Dummerweise, ja. Dabei haben wir überhaupt kein Gold,
sondern nur Kreditbriefe des herzoglichen Finanzverwalters
in Opardum, um unsere Geschäfte zu tätigen.«
»Ihr vertretet also den Herzog?«
Der Kaufmann stieg vorsichtig auf den Wagen und sagte:
»Ja. Herzog Kaspar baut ein neues Jagdhaus, und er möchte
ein paar Holzschnitzereien kopieren lassen, die er anderswo
gesehen hat. Dafür braucht es ein bestimmtes Holz, das anscheinend nur hier oben in Latagore wächst. Deshalb waren
wir unterwegs.« Caleb zuckte mit den Schultern, als interessiere ihn das alles nicht. »Ich nehme an, Euer Freund wird die
Stadtwache schicken, um Euch zu helfen.«
»Sehr wahrscheinlich«, erwiderte Dustin.
»Dann können sie uns in die Stadt begleiten.«
Danach schwiegen sie alle und dachten über die Ereignisse
der letzten Minuten nach. Talon schaute den Gefangenen an,
der offenbar in finsteres Brüten darüber versunken war, wie
sein Plan hatte schief gehen können, und fragte sich, was den
Mann auf die Idee gebracht hatte, den Kaufmann zu berauben.
Dann kam er zu dem Schluss, dass es ihm besser dienen würde herauszufinden, was ihn selbst bewogen hatte, sich so
übereilt zu entschließen, einem Fremden zu helfen.
Sechs
Latagore
Talon machte große Augen.
Er hatte geschwiegen, als sie sich der Stadt näherten und
schließlich eine Stunde vor Einbruch der Nacht eines der westlichen Tore erreichten. Die Größe von Latagore hatte ihn, als
sie näher gekommen waren, verblüfft, aber als sie die Außenbezirke der Stadt erreichten, war er vollkommen überwältigt.
Nichts in seinem bisherigen Leben hatte ihn auf den Anblick von so vielen Menschen vorbereitet, die so dicht beieinander wohnten. Die Geschäftigkeit und der Lärm waren beinahe zu viel für ihn, doch dann begann er alles in sich aufzusaugen.
Hausierer warteten nahe den Stadttoren und boten jedem in
Reichweite ihre Waren an – kleine Schmuckstücke, Glücksbringer, Gegenstände, deren Zweck Talon nicht einmal erahnen konnte. Viele, die sich näherten, waren nichts weiter als
zerlumpte Bettler, die alle, die ihnen etwas gaben, segneten,
und die anderen verfluchten.
Caleb warf dem sprachlosen Jungen einen Blick zu und
sagte: »Mach lieber den Mund zu, bevor ein Vogel sein Nest
drin baut.«
»So viele Leute«, murmelte Talon.
Dustin Webanks blickte den Jungen über die Schulter hinweg an. »Bist du nie zuvor in einer Stadt gewesen?«
»Nein, Sir.«
Selbst der Gefangene, der bisher mürrisch geschwiegen
hatte, wenn man von dem einen oder andern gequälten Stöhnen absah, wenn der Wagen besonders heftig rumpelte, meldete sich jetzt zu Wort: »Das hier ist gar nichts, Junge. Wenn
du je nach Opardum oder Kalesh’kaar kommst, werden dir die
Augen aus dem Kopf fallen. Latagore ist kaum groß genug,
um als Stadt durchzugehen. Eher ein zu groß geratenes Dorf.«
Caleb schnaubte. »Es ist groß genug, dass es dort Wachen
und einen Strick gibt.« Zu Talon sagte er: »Das hier ist das
richtige Tor, um bequem in die Stadt zu gelangen. Die meisten Ortsansässigen bevorzugen dieses Tor, denn die anderen
werden von Reisenden und Karawanen benutzt, und es dauert
dort viel länger, bis man durchkommt. Dieses Tor hier nennt
man auch das Städtertor.«
»Wie viele Tore hat Latagore?«, fragte Talon, der an die
einfache Palisade rings um sein Dorf dachte, die nur ein einziges Tor gehabt hatte.
»Ich glaube, diese Stadt hier hat … vierundzwanzig? Ja,
vierundzwanzig Tore.«
Sie reihten sich hinter den anderen ein, die darauf warteten,
noch vor Einbruch der Dunkelheit in die Stadt eingelassen zu
werden, denn dann wurden die Tore geschlossen. Nur zwei
Wagen und eine Gruppe von
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