Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
dazu bringen, ihm zu gehorchen.
Eine weitere Feuerlinie brannte sich in seine rechte Schulter, und Talon schrie laut auf. Er wusste, nun würde er sterben.
Sein Volk würde nicht gerächt werden, und er würde nie
erfahren, wer seine Mörder gewesen waren oder wieso man
ihn überhaupt umgebracht hatte.
Seine letzten Gedanken waren voll finsterster Verzweiflung und tiefstem Bedauern, als gleißend weißes Licht um ihn
herum explodierte und er ins Nichts fiel.
Talon trieb in einem Meer von Schmerzen. Seine Haut brannte, und er versank in Qualen. Aber er konnte sich nicht bewegen, konnte nichts dagegen tun. Stimmen und Bilder kamen
und gingen, ein paar davon vertraut, die meisten aber fremd.
»… zu viel Blut verloren. Ich weiß nicht …«
Dunkelheit umgab ihn wieder, und dann wurden die
Schmerzen noch schlimmer.
»… überlebt hat, ist beinahe ein Wunder …«
Ein seltsames Geräusch erklang einige Zeit in seinem Ohr,
dann wurde es plötzlich zu Musik. Irgendwo in der Nähe
spielte jemand Flöte.
Dann wurde es wieder dunkel.
Die Zeit verging in verwirrtem Aufschrecken, vage erinnerten
Bildern, Gerüchen und Strukturen. Das Gesicht einer Frau
erschien mehrere Male vor ihm. Sie war sehr schön, aber ihre
Miene war streng. Sie sprach mit anderen in der Nähe, aber
offenbar konnte Talon die Worte nicht hören oder nicht verstehen.
Er hatte Fieber und in seinen Träumen erschienen Alptraumgeschöpfe. Ein blaues Wesen mit silbernen Hörnern
beugte sich eine Weile über ihn und gab Pfeif- und Heultöne
von sich. Andere Gesichter kamen und gingen, einige eindeutig menschlich, andere mit subtilen Abweichungen: ein zu
langes Ohr, Augenbrauen aus Federn oder eine Nase mit einem kleinen Dorn am Ende.
Er hatte noch andere Träume, die sich um seine Kindheit
im Dorf Kulaam drehten. Er sah das Gesicht von Teal Eye,
ihre honigfarbenen Augen, die ihn traurig ansahen. Er sah
seinen Großvater, der ihn anlächelte. Er sah seine Mutter,
seine Schwester und die anderen Frauen, die ihrer Arbeit
nachgingen.
Er sah sich selbst, wie er den Berg hinunter aufs Dorf zurannte, erschöpft, aber so schnell er konnte.
Er sah Rauch, Tod und Feuer. Und er sah einen Mann auf
einem schwarzen Pferd.
»Raven!«, rief er und fuhr auf.
Eine Frau packte ihn an den Schultern und sagte: »Ruhig,
ganz ruhig. Es wird alles wieder gut.«
Talon bemerkte, dass er nass geschwitzt war. Ihm war
schwindlig. Er bebte unter den Bandagen, die um einen großen Teil seines Körpers gewickelt waren, und plötzlich wurde
ihm kalt. Er sah sich um.
Er befand sich in einem weißen Zimmer mit mehreren
schönen Möbelstücken, und durch ein großes Fenster konnte
er einen blauen Himmel sehen, einen warmen Tag. Sanfter
Wind wehte durch ein Fenster herein, und er konnte in der
Ferne Stimmen hören.
»Wo bin ich?«
Die Frau stand auf. »Du bist unter Freunden. Ich werde
Magnus holen.«
Talon ließ sich wieder in drei schwere Kissen sinken, die
mit Daunen gefüllt waren. Er ruhte nackt zwischen feinen
weißen Laken, die besser waren als alles, was er je gesehen
hatte. Die Laken waren nass, seine Schulter war verbunden,
ebenso wie der Rücken, die Rippen auf der linken Seite, beide
Oberschenkel und die rechte Wade.
Ein paar Minuten später erschien Magnus, und die Frau
folgte ihm. »Wie geht es dir?«, fragte der weißhaarige Magier.
Talon lehnte sich in die Kissen zurück und sagte: »Ich
könnte mich nicht mal gegen ein Kätzchen wehren.«
Magnus setzte sich auf die Bettkante und legte Talon eine
Hand auf die Stirn. »Das Fieber ist weg.« Er legte den Daumen oben an Talons linkes Augenlid und hob es ein wenig.
»Und die Gelbsucht auch.«
»Was ist geschehen?«, fragte Talon.
Magnus sagte: »Das ist eine lange Geschichte. Die Kurzfassung lautet, dass jemand drei Todestänzer geschickt hat,
um mich umzubringen. Stattdessen haben sie dich gefunden.«
»Todestänzer?«
»Ich werde es dir später ausführlich erklären, aber im Augenblick musst du dich ausruhen. Hast du Hunger?«
Talon nickte. »Ich könnte etwas vertragen.«
Die Frau sagte: »Ich hole ein wenig Brühe«, und ging hinaus.
»Wie lange war ich in diesem Zustand?«, fragte Talon.
»Zehn Tage.«
»Ich bin seit zehn Tagen hier?«
Magnus nickte. »Du wärst beinahe gestorben, Talon. Wenn
du irgendwo anders gewesen wärst als auf dieser Insel, wäre
das beinahe mit Sicherheit geschehen. Vielleicht hätte ein
mächtiger Tempelpriester dich retten können, aber nur wenige
außer
Weitere Kostenlose Bücher