Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 4
aber es gibt nicht allzu viele von ihnen, und sie können nicht überall gleichzeitig sein. Ich hingegen habe überall Augen und Ohren.
Anders als die Adligen und die reichen Kaufleute in der
Stadt gehe ich nicht furchtlos umher, überzeugt davon,
dass mir schon wegen meiner hohen Geburt nichts zustoßen kann. Ich weiß, es gibt Hände in den Schatten und
Dolche in diesen Händen. Ich werde Euch warnen, wenn
ich erfahre, dass sich etwas gegen Euch zusammenbraut.«
»Und warum würdet Ihr das tun?«, fragte Caleb.
»Wenn Ihr tot seid, könnt Ihr mich nicht bezahlen.« Er
zeigte auf die Falltür. »Einer nach dem anderen, und in
dieser Reihenfolge: Kaspar von Olasko, dann Caleb,
dann Talwin. Jeder wird einen Führer haben, der ihn zu
einem sicheren Ausgang bringt. Ich schlage vor, ein Bad
zu nehmen, wenn Ihr Euer Quartier erreicht; der Gestank
hier dringt bis in die Haut. Und nun wünsche ich einen
guten Heimweg.«
Turgan Bey stand reglos da. Er trug den offiziellen Halsschmuck seines Amtes, der aus polierten Steinen und
emailliertem Metall in Goldfassung bestand.
Er stellte Kaspar dem Kaiser vor, obwohl die Frage
seines Asyls schon vor Wochen entschieden worden war.
Kaspar würde dem Kaiserreich einen Treueeid schwören,
und im Austausch würden sie ihn nicht hängen, ihm bei
lebendigem Leib die Haut abziehen oder ihn den Krokodilen vorwerfen.
Zum ersten Mal, seit er sein Herzogtum verloren hatte,
sah Kaspar Diigai, den Kaiser von Groß-Kesh.
Diigai war ein sehr alter Mann, aber er hielt sich immer noch gerade. Seine Bewegungen ließen allerdings
kaum mehr vermuten, dass er einmal ein ausgesprochen
furchterregender Jäger gewesen war. Wie seine Ahnen
hatte auch er den großen, schwarz bemähnten Löwen der
keshianischen Ebene gejagt. Auf seiner eingesunkenen
Brust trug er immer noch Spuren von diesen Jagdtriumphen, auch wenn sie schon sehr verblasst waren.
Der Thron, auf dem er saß, bestand aus schwarzem
Marmor, und hinter dem Kaiser war das Flachrelief eines
Falken mit ausgestreckten Schwingen in die Wand gemeißelt: das große Wappen von Kesh. Vor ihm stand
eine hölzerne Sitzstange, auf der ein lebender Falke saß,
sich putzte und die Menschen im Raum mit glitzernden
Augen beobachtete.
Der Zeremonienmeister stand neben dem Fuß des Podiums, und sein großer Kopfputz war mit seltenen Federn
und goldenen Abzeichen geschmückt. Um die Taille trug
er über dem Leinenkilt den traditionellen goldenen Gürtel seines Amtes, aber sein Oberkörper war nicht nackt,
denn ihm war erlaubt, ein Leopardenfell über einer
Schulter zu tragen.
Nicht, dass er noch weitere Zeichen seiner Stellung
brauchte, dachte Kaspar; der Kopfschmuck sah aus, als
würde er jeden Augenblick vom kahlen Kopf des Mannes
herunterrutschen. Der Zeremonienmeister hatte Kaspar
vorgestellt und sprach nun seit beinahe einer halben
Stunde.
Kaspar hatte nach den ersten paar Minuten nicht mehr
zugehört und seine Gedanken der kommenden Konfrontation und den Ereignissen zugewandt, die zu seiner eigenen Unterwerfung geführt hatten. Er liebte das Kaiserreich zwar nicht gerade, aber Diigai war ein Mann von
makelloser Ehre, und er hatte Besseres verdient, als zusehen zu müssen, wie sein Reich dem rechtmäßigen Erben entrissen wurde.
Kaspar wusste auch, dass die Hand hinter all diesem
Ärger nicht wirklich die eines ehrgeizigen Prinzen war,
sondern ein verrückter Zauberer, der bereits eine große
Rolle bei Kaspars eigenem Sturz gespielt hatte. Kaspars
Weg mochte sich von dem des Kaisers unterscheiden,
aber am Ende würde es um das Gleiche gehen: mehr
Chaos in der Region und ein Vorteil für jene, die in dieser Hemisphäre den Kräften des Bösen dienten.
Kaspar ging noch einmal die Ereignisse durch, die zu
seinem Untergang geführt hatten: Leso Varen hatte sich
in seinen Haushalt geschmeichelt und immer größeren
Einfluss auf ihn gewonnen, zunächst subtil, dann ganz
offen und schließlich so sehr, dass es zu Kaspars Ruin
führte. Obwohl der ehemalige Herzog einen Teil seiner
fehlgeleiteten Menschlichkeit zurückgewonnen und endlich seinen moralischen Kompass gefunden hatte, dürstete er immer noch nach Varens Blut.
All die Jahre, in denen er Hofetikette über sich ergehen lassen musste, ließen ihn schließlich gerade noch
rechtzeitig bemerken, dass die Vorstellung vorüber war.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart
zu und verbeugte sich, als hätte er gebannt jedem Wort
des Zeremonienmeisters
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