Feldpostnummer unbekannt
Amorphes Ungeheuer. Platt. Widerlich. Ein wälzender Brei. Ein Nichts. Die beiden Überlebenden sind längst auseinandergetrieben, schaukeln in zwei, drei Meilen Entfernung voneinander. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Die Sonne blendet, sticht in die Augen, ist noch gemeiner als das Salz. Scheißsonne! Drecksalz! Widerliches Wasser! Beschissener Krieg!
Ich muß aushalten, muß durchkommen! Will nach Hause, Mutter, Vater, Thomas, Achim, Freddy, Marion. Ein Schlag für Mutti, eine Bewegung für Vati, Kopf hoch für Thomas, seitwärts drehen für Freddy, ausholen für Achim, Arme schließen für Marion. Noch einmal! Wieder! Immer wieder!
Keine Chance. Scheißegal. Nicht aufgeben. Durchstehen. Aushalten.
Am Nachmittag findet eine britische Küstenpatrouille den abgeschossenen Flieger. Der Körper Fritz Kleebachs ist klamm, seine Sinne fast bewußtlos. Er hat Wasser geschluckt, viel zuviel. Die Tommies schlagen ihn mit nassen Handtüchern, schütteln und kneten ihn durch. Endlich kotzt er. Fortsetzung der Massage. Er spuckt noch mehr Kotzwasser. Die erste Zigarette, English Blend, prima Ware, schmeckt schon wieder, ha, ha, ha …
So ist Fritz Kleebach in Gefangenschaft geraten, und so ist er am Leben geblieben und genießt es durch gute Verpflegung und ärztliche Betreuung. Erstes Lebenszeichen nach Berlin. Kommt nicht an, säuft ab. Einschiffung nach England. Konvoi. Vorbei an Gibraltar. U-Boot-Alarm im Atlantik. Krachende Torpedos. Inferno, Angst und Untergang. So ein Treppenwitz: beinahe nachträglich noch an einem deutschen Geschoß krepiert.
Durchgekommen. Der Lebenswille spannt sich wieder wie ein Bogen. Landung in England. Weiterleitung nach Schottland. Tausende von Deutschen POWs, von solchen, die froh sind, es überstanden zu haben, und anderen, die den Kanal nie voll genug kriegen können. Verladung nach Kanada. Zuvor noch ein Lebenszeichen nach Hause, über das Internationale Rote Kreuz, via Schweiz.
Das alles konnte Arthur Kleebach jetzt nur ahnen. Die rasende Erleichterung forderte ihren Tribut. Er trank ein Glas Schnaps und rauchte seine beste Zigarre. Ein Glas auch für Maria; sie wollte nicht, aber sie mußte. Arthur schüttelte sie herum. Am liebsten würde er mit ihr tanzen, noch lieber alles auf einmal: weinen, beten, lachen …
Dann nahm er seine Postmappe und ging weg, um ein Kilogramm Schicksal zu verteilen, gute Nachrichten und schlechte, wahllos, aber sortiert im Bauch des Kunstleders. Und Arthur Kleebach entschuldigte sich an diesem Tag bei jedem für die Verspätung und sagte immer wieder: »Wissen Sie … die Sache ist die: ich habe gerade erfahren, daß Fritz, mein vermißter Sohn … noch am Leben ist …«
Viele beglückwünschten ihn, einige lächelten, und andere schüttelten nur den Kopf, durch eigenes Leid abgestumpft für das fremde …
Als die Nachricht von der Gefangennahme ihres Bruders Fritz zu Thomas und Achim Kleebach nach Nordafrika gedrungen war, herrschte dort noch Stellungskrieg, aber die Ruhe vor dem Sturm auf beiden Seiten zitterte ihrem Höhepunkt entgegen. Die Panzerkompanie kauerte in der Bereitstellung und füllte die Freizeit mit Wache, Waffenappell und Weltanschauung. Besonders auf letzterem bestand der neue Abteilungskommandeur, Major Schreyvogl, der auch im Zivilleben schon Uniform getragen hatte.
Thema: die Judenfrage.
Leutnant Thomas Kleebach stand vor seiner Kompanie und sah zu, wie der Spieß den Dienstplan bekanntgab. Einer maulte, einer gähnte, ein paar feixten, die anderen machte die Hitze zu apathisch dafür. So standen sie in Linie zu drei Gliedern und warteten jede Stunde, daß der Tag zu Ende ging; und warteten wie jeden Tag, daß sich endlich der Krieg an den Leichen überfressen hätte.
Auf den Abend warteten sie zu Recht, auf das Kriegsende noch lange vergeblich.
»Wer hält den Unterricht?« fragte der Spieß, »wer meldet sich freiwillig?«
Nur einer hob die Hand; es war Achim Kleebach, der Pimpf.
»Sie melden sich anschließend beim Kompanieführer«, sagte der Hauptfeldwebel anerkennend und ließ wegtreten.
Schütze Kleebach trat vor seinen Bruder und stand stramm.
»Komm mit«, sagte Thomas.
Sie stapften nebeneinander her.
»Also schon wieder du«, fuhr der Leutnant verdrossen fort, »du mußt aber auch auf jeder Hochzeit tanzen.«
»Was dagegen?« versetzte der Pimpf aggressiv.
Der Offizier zuckte gleichmütig die Schultern. »Und woher nimmst du deine Weisheiten?« fragte er sachlich.
»Ich«, antwortete Achim mit
Weitere Kostenlose Bücher