Feldpostnummer unbekannt
ob … heiße Musik, die du nicht alle Tage zu hören kriegst.«
»Richtig getanzt?« vergewisserte sich die kleine Kleebach noch einmal.
»Solange du willst … und mit wem du willst.« Erika spitzte die Lippen. »Also?«
»Vielleicht … ein andermal …«
»Quatsch!« konterte die Kollegin sie derb. »Aber ganz wie du willst … ich möchte dir ja nur helfen … aber dir ist einfach nicht zu helfen.«
Marion zögerte noch eine halbe Zigarettenlänge lang, dann drückte sie resolut die Kippe im Aschenbecher aus und sagte fast heftig: »Gut … ich seh' mir das einmal an … aber ich lass mich auf nichts ein … auf gar nichts!«
»Meinst du, ich?« entgegnete Erika ironisch und lächelte zufrieden, denn der Hauptmann hatte ihr fünf Flaschen Sekt und fünf Paar reinseidene Strümpfe versprochen, falls es ihr gelänge, Marion zu einem Besuch in der Villa zu überreden …
Als Vater Kleebach nicht mehr weiter wußte, als das Ultimatum des Ortsgruppenleiters Rosenblatt fast abgelaufen war, als ihn die Lüge tagtäglich mehr würgte, als er bereits den zweiten Brief gefälscht hatte, als er entschlossen war, zur Wahrheit zu stehen, weil ihm kein anderer Ausweg blieb – da kam plötzlich der Tag, an dem der Beamte sich wie ein Irrsinniger benahm.
Er hatte beim Morgenempfang seines Pakets, seiner Gewohnheit entsprechend, die Post flüchtig durchgesehen. Er war auf eine Karte gestoßen, und hatte sie ein paar Sekunden lang betroffen angestarrt und die Farbe so jäh gewechselt, daß seine umstehenden Kollegen einen Herzanfall befürchteten.
Arthur Kleebach atmete schwer. Dann riß er die Zustellmappe an sich, warf sie sich über und lief davon, quer durch sein eigenes Revier, auf kürzestem Weg in seine Wohnung, an Passanten vorbei, die ihm verwundert nachsahen. Er lief und lief. Seine Beine hasteten über die Straße, als träten sie Pedale. Er vergaß, daß er einundfünfzig Jahre alt war, er spürte das Seitenstechen nicht, er stürmte weiter, als hätte das Wunder, an das er längst nicht mehr geglaubt hatte, auch Zaubermacht über seinen Körper. Er raste die Treppe hoch, klingelte, ohne den Knopf wieder loszulassen, und stand atemlos vor seiner erschrockenen Frau. »Hier«, sagte er und hielt Maria Kleebach mit fliegenden Händen die Karte hin.
»Was … was ist denn?« fragte sie betroffen.
»Lies, Mutter … lies …«, keuchte er zwischen zwei Atemstößen, als er Maria Kleebach die Karte des Roten Kreuzes überreichte, die sein Sohn Fritz, der Flieger, aus einem englischen POW-Camp geschrieben hatte.
Maria Kleebach lehnte schmal und hilflos im Türrahmen, sah erschrocken das von der Erregung durchzitterte Gesicht ihres Mannes und zog wie in demütiger Abwehr ihren Kopf zwischen die Schultern. Dann liefen ihre Augen über die Karte mit dem Lebenszeichen, die ihr Arthur gegeben hatte, aber ihre Augen waren schneller als ihre Gedanken und blieben dann betroffen auf dem Signum des Roten Kreuzes stehen: Lazarett, dachte sie, atmete in den nächsten Sekunden den Karbolgeruch ein, sah den Chirurgen mit der Gazemaske, der sich tief über ihren Fritz beugte, betrachtete das blitzende Skalpell, das gespannte Gesicht der Operationsschwester, die ruhige Sachlichkeit des Assistenten – und durchlitt Sekunden panischer Angst.
»Verstehst du, Mutter …«, rief Arthur Kleebach, noch immer außer Atem, »Fritz ist in englische Gefangenschaft geraten … ist in Sicherheit …«
Ob des ungewohnten Lärms bei den Kleebachs öffneten sich ein paar Wohnungstüren. Der Geruch intimer Hausgemeinschaft wehte durch den Treppenflur: Sauerkohl, Terpentinöl, Wirsingdampf, Bohnerwachs, ausgekochte Windeln …
»England?« erwiderte Maria Kleebach mit vager, verzagter Stimme, »ist denn das nicht …?«
»Nein«, rief ihr Mann heftig, »die Engländer sind fair, das sind doch feine …«
Schrei doch nicht so … dachte Maria jetzt an das Nächstliegende und zog ihn in die Wohnung hinein.
Sie standen sich wieder gegenüber. Das Lebenszeichen zitterte in der Hand der Mutter. Sie hatte begriffen, war erleichtert, aber dann kam der Zweifel.
»Aber«, sagte sie, »er hat uns doch erst vor ein paar Tagen aus Sizilien geschrieben … wenn das ein Irrtum ist …«
»Du weißt doch, wie lange die Feldpost heutzutage braucht«, entgegnete Arthur Kleebach hastig, um sich nicht noch posthum von der Lüge der letzten Wochen überrunden zu lassen – jetzt, da alles überstanden war, da der Alptraum der
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