Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
der ungerührt seinen Bruder weiter piesackte.
Henry gab einen gurgelnden Wutschrei von sich.
»Daniel«, sagte seine Mutter.
»Schluss jetzt!«, knurrte eine Stimme hinter der Zeitung.
Percy und Will ließen ihren Bruder los.
»Verliebt, verlobt, verheiratet«,
sangen sie lauthals und flüchteten aus der Küche, verfolgt von Henry.
Mr Twogood ließ nun doch endlich seine Zeitung sinken. »Ich frage mich, warum er sich ausgerechnet eine Gallant aussuchen musste.«
Seine Frau spritzte neckisch ein bisschen Bügelwasser in seine Richtung. »Sie ist reizend.«
»Mag sein. Aber von dieser Familie hält man sich besser fern. Mit denen hat man nichts als Ärger.«
Am Abend, als sie in ihrem Zimmer war, nahm Felicity das Buch mit dem roten Ledereinband zur Hand und blätterte voller Erwartung zur Seite 120 . Sie gehörte zum Anhang des Buchs, und da stand:
Die Erdhexe verliebte sich in einen Sterblichen. Er gewann ihr Herz, und sie liebten einander so innig, dass sie beschlossen zu heiraten. »Ich will auf alle meine Zauberkräfte verzichten«, erklärte sie, »und als ein gewöhnliches menschliches Wesen mit dir leben bis zu meinem Tod.« Aber der Herr des Himmels war nicht bereit, ihrem Wunsch nachzugeben. »Ihr sollt ein Jahr getrennt voneinander bleiben und dann wieder hierherkommen«, sprach er, »und wenn dann eure Gefühle unverändert sind, will ich darüber nachdenken.« Also trennten sich die Liebenden. Die Erdhexe nahm eine Locke ihres goldenen Haars, flocht daraus ein Halskettchen, das wie Sonnenstrahlen blitzte, und schenkte es ihrem Geliebten. »Es hat einen besonderen Zauber«, sagte sie. »Es wird dich vor allem Übel schützen, und solange du es trägst, weiß ich, dass du mich liebst.« Nachdem das Jahr verstrichen war, wollte der Herr des Himmels immer noch nicht seine Zustimmung geben. »Zwölf Monate sind nicht genug«, sprach er. »Kommt nächstes Jahr wieder, dann werde ich vielleicht meine Meinung ändern.« Die Erdhexe weinte bitterlich, denn sie hatte ihren Liebsten sehr vermisst. Die Trennung tat ihr in der Seele weh. All die Zeit hatte nur ein treuer Diener ihr Gesellschaft geleistet. Aber der Herr des Himmels ließ sich nicht erweichen und sie musste ihm gehorchen. Wieder ein Jahr verging, und der Herr des Himmels war immer noch nicht bereit, ihren Wunsch zu erfüllen, und genauso erging es ihr auch im folgenden Jahr und in vielen weiteren. »Hundert Jahre habe ich jetzt gewartet«, sagte die Erdhexe. »Muss ich noch einmal hundert Jahre warten?« Schließlich sah der Herr des Himmels ein, dass ihre Liebe zu diesem Mann nicht erkalten würde. »Halte noch zwölf Monate aus«, gab er ihr zur Antwort, »dann sollst du deinen Willen haben.« Die Erdhexe und ihr Geliebter waren überglücklich, als sie das hörten.
Felicity dachte an eine Passage im Hauptteil, die sie schon oft gelesen hatte und die mit dieser Geschichte in Zusammenhang stand. Sie musste nicht lange blättern, bis sie die Stelle gefunden hatte.
Die Windhexe sah die Liebe zwischen der Erdhexe und ihrem Schatz mit Neid. Sie ertrug es nicht und setzte alles daran, ihn für sich zu gewinnen. Die sanfte Schönheit der Erdhexe war von betörendem Reiz, aber der skrupellosen Tücke der Windhexe hatte sie nichts entgegenzusetzen. Diese stellte dem Geliebten ihrer Schwester nach und bot all ihre Verführungskraft auf, um ihn zu bezaubern und zu umgarnen, bis er endlich schwach wurde. Als das Jahr vorüber war, fand sich die Erdhexe wieder beim Herrn des Himmels ein, doch ihr Schatz war nicht da. Dafür war ihre Schwester gekommen und sie hielt triumphierend das Halskettchen aus dem Haar der Erdhexe hoch. »Er liebt dich nicht«, rief sie. Die Erdhexe war so todunglücklich, dass sie blutige Tränen weinte. Sie wusste, dass ihre Schwester die Wahrheit sagte: Das Haar des Kettchens war ohne Zweifel ihres. »Alles Heulen und Flennen hilft dir nichts.« Die Windhexe lachte höhnisch. »Er will nichts mehr von dir wissen.«
Und die Erdhexe in ihrem untröstlichen Leid weinte und weinte und wurde immer bleicher, bis sie endlich ganz weiß war.
Was für eine grausame und schreckliche Person die
Herrin
war, so völlig mitleidlos und doch unwiderstehlich verführerisch! Felicity fielen die Augen zu und sie schlief über dem offenen Buch ein.
Aber im Schlaf quälten sie wirre Träume. Sie flog um die Welt, so hoch oben, dass sie die Erde als eine riesige Kugel sah. Und wo sie auch hinblickte, überall war nichts als Unglück und
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