Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
Schrecken: Kinder, die ihren Eltern entrissen wurden, untreue Liebhaber, grausame Ehemänner, böse Ehefrauen, geldgierige Geschäftsleute …
Und im Hintergrund war immer ein ganz unheimliches Geräusch zu hören, das ihr durch Mark und Bein ging, ein kratzendes, knirschendes, rau scheuerndes Geräusch, das nach unbarmherzig immer gleichem Elend und Leid klang.
Sie erwachte. Dem Licht nach zu urteilen, war es früh am Morgen. Und sie hörte das gleichförmige leise Kratzen immer noch: Es hatte nicht zusammen mit dem Traum aufgehört, es
existierte
. Es schien von oben aus dem Dachgeschoss zu kommen, aus Felicitys altem Zimmer, in dem voriges Jahr die
Herrin
gewohnt hatte.
Sie schlüpfte aus dem Bett, schlich barfuß, die Hand am Mahagonigeländer, die Treppe hinauf. Durch Schäfchenwolken schien der Vollmond. Das silberne Licht hatte etwas Unwirkliches und reichte nicht aus, die Schatten zu verscheuchen.
Felicity hatte ein scheußliches Gefühl im Bauch, in ihrem Magen rumorten namenlose Ängste. Das Kratzen dauerte an.
Da ist niemand,
sagte sie sich.
Vor der Tür der Dachkammer blieb sie stehen. Sie hatte dieses Zimmer geliebt. Es war so still und friedlich dort oben und man hatte eine herrliche Aussicht aufs Meer. Aber jetzt konnte sie nicht mehr darin wohnen; es war für immer mit bösen Erinnerungen an die
Herrin
verbunden.
Und immer noch hörte sie das leise Kratzen. Es kam von draußen.
Leise schlich sie ins Zimmer. Als sie vors Fenster trat, sah sie, dass die Scheiben von einem feinen Schleier aus bleichem, weißem Sand bedeckt waren. Auch auf dem Fensterbrett lagen angewehte Sandkörnchen.
Felicity starrte stumm vor sich hin. Sie spürte, wie sich die Härchen an ihren Unterarmen sträubten.
Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf: Povl Usage, der weißen Sand vom Kragen ihres Blazers wischte; weißer Sand im Park, neben dem Weg vor der Bibliothek, im seichten Wasser an der Sliprampe.
Die Geschichte, auf die Alice sie aufmerksam gemacht hatte, handelte von der Erdhexe. Und Sand war nichts anderes als eine Art von Erde, was sonst?
Ein heftiger Windstoß schlug gegen das Fenster. Felicity zuckte erschrocken zusammen. Mit wild klopfendem Herzen blickte sie hinaus aufs Meer, das sich bleich im Mondlicht vor der Stadt ausbreitete.
Irgendetwas ging hier vor. Und es hatte mit der Erdhexe zu tun. Das war es, was Alice sagen wollte.
Fünftes Kapitel
F elicity ging wieder ins Bett, aber sie schlief unruhig. Als sie am Morgen erwachte, hatte sie Kopfweh. Trotzdem zog sie sich schnell an und ging frühstücken. Poppy unterhielt die Familie mit einem dramatischen Bericht von einem Experiment in Povl Usages Chemieunterricht, das spektakulär schiefgegangen war. Dabei setzte sie das ganze Geschehen so lebhaft in Szene, dass es den Eltern schwerfiel, ernst zu bleiben.
»Der arme Kerl hat sich die Haare gerauft vor Entsetzen«, sagte Poppy, »und wir haben uns fast totgelacht.«
Felicity steckte klammheimlich ein Stück Toast ein, um es auf dem Weg zur Schule zu essen, dann gab sie Olivia einen Abschiedskuss. Ihr Schwesterchen grabschte mit ihrem marmeladenverschmierten Händchen nach ihrer Wange.
Draußen schien die Sonne, aber der Himmel war von einem grauen Dunstschleier bedeckt, und immer wieder sausten Felicity heftige Windstöße um die Ohren. Vor der Schule angekommen, hielt sie Ausschau nach Henry und Martha. Sie konnte es kaum erwarten, ihnen mitzuteilen, was sie herausgefunden hatte.
Als sie endlich auftauchten, suchten sich die drei ein ruhiges Plätzchen auf dem Schulhof und Felicity erklärte ihnen ihre Theorie über den bleichen weißen Sand und die Erdhexe.
Aus der Art, wie Henry sie die ganze Zeit anstarrte, wurde nur allzu deutlich, dass er kein Wort von alledem glaubte, Martha dagegen schien durchaus beeindruckt zu sein.
»Stimmt, ich kann mich nicht erinnern, dass ich den Sand früher schon mal hier gesehen hätte, und jetzt macht er sich praktisch überall breit. Meine Mutter hat neulich sogar in ihrem Füllfederhalter Sandkörnchen gefunden. Sie haben die Öffnung verstopft, sodass keine Tinte mehr nachfloss«, sagte sie.
»Das ist doch alles ganz natürlich«, wandte Henry ein und biss in eine Birne. »Sand ist mal da, mal dort, wo ihn die Meeresströmung eben hintreibt. Und der Wind kann ihn über Land aus irgendwelchen weit entfernten Wüstengegenden hertragen.«
Aber Martha gab nicht so leicht auf. »Und warum hat Alice in ihrem Brief Felicity auf diese Geschichte von der
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