Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
ja, wenn man eine ganze Wand mit Spiegeln verkleidet, täuscht man mehr Raumtiefe vor, und der Betrachter kommt gar nicht erst auf die Idee, dass hinter der Wand noch was sein könnte. Hier haben wir es mit einer anderen Technik zu tun. So was ist schwieriger zu machen, aber es ist auch raffinierter. Der Schnappverschluss war wahrscheinlich nicht richtig zu. Als Felicity sich an der Wand abgestützt hat, ist der Riegel eingerastet, und darum hat es geklickt.«
»Henry«, sagte Felicity, »du bist ein Genie.«
Er grinste. »Ich weiß.«
Felicity steckte den Kopf durch die Türöffnung. Eine steinerne Wendeltreppe führte nach unten. Sie spürte ihr Herz klopfen. In den Büchern, die sie immer las, kamen andauernd Geheimgänge vor, aber dieser hier war
echt
.
»Wenn ich mich nicht täusche, hat dein Großvater die Bibliothek bauen lassen, oder?« Henry zog eine Taschenlampe hervor.
Felicity nickte. Sie spähte hinunter ins Dunkel.
»Also«, sagte Henry, »worauf warten wir noch?« Beschwingt nahm er ein paar Stufen. »Ihr wollt mir doch nicht erzählen, dass es euch nicht reizt, euch da ein bisschen umzusehen.«
Die beiden Mädchen folgten ihm, immer eine Hand Halt suchend an der Wand. Die Stufen waren abgetreten und glatt, die Treppe steil und eng gewunden.
»Da brennt Licht«, flüsterte Henry aufgeregt. Am Fuß der Treppe war ein Vorhang. Er zog ihn vorsichtig beiseite. Die Kinder blickten in einen Raum, an dessen Wänden Bücherregale standen. Außerdem gab es etliche Schränke aus Eichenholz. Sie hatten sehr breite, flache Schubladen und waren so niedrig, dass sie gleichzeitig als Tische dienten. Auf den Arbeitsplatten türmten sich Stapel von Papieren.
An einem Schreibtisch aus Mahagoni mit Messingbeschlägen saß Miss Cameron. Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch. Ein paar Sekunden vergingen, ehe sie sich umdrehte. »Guten Tag«, murmelte sie.
Felicity wäre vor lauter Peinlichkeit am liebsten im Erdboden versunken. Was musste Miss Cameron von ihnen denken? Dass sie ihr nachschnüffelten?
»Wir müssen unbedingt mit Ihnen sprechen – wegen der Erdhexe«, sprudelte Martha hervor und drängelte sich an Felicity und Henry vorbei. »Alice hat Felicity ihr Tagebuch zukommen lassen, und wir glauben, dass sie ihr etwas Wichtiges mitteilen wollte.«
Die Bibliothekarin runzelte die Stirn.
Jetzt brachen alle Dämme. Felicity und Henry liefen zum Schreibtisch und alle drei redeten wild durcheinander.
»Das Tagebuch ist wirklich sehr interessant und ein Bild ist auch darin«, sprudelte Martha hervor.
»Mir ist es klar geworden, als ich heute Nacht den weißen Sand im Meer gesehen habe«, sagte Felicity. »Er macht sich überall breit, das ist gar nicht zu übersehen.«
»Es ist bloß Sand, eigentlich nichts Besonderes: Wüstenwinde blasen das Zeug um die halbe Welt, das weiß man doch«, sagte Henry.
Miss Cameron stand auf. »Das stimmt, der Sand ist in Bewegung.« Die Kinder verstummten. »Aber es ist nicht klar, aus welchem Grund.«
»Braucht Sand denn einen Grund?«, fragte Henry.
»Es gibt für alles einen Grund, Henry Twogood«, sagte Miss Cameron.
Henry errötete.
Felicity ließ ihren Blick über die Regale schweifen, in denen Hunderte von Büchern standen. »Warum stehen diese Bücher hier und nicht in der Bibliothek?«, fragte sie.
Miss Cameron sah sie an, als verstünde sich die Antwort von selbst. »Weil sie lauter Geschichten enthalten, die jemand an einer der Quellen erzählte und die wahr wurden.«
Martha zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, in Felicitys Buch stehen
alle
Urgeschichten, die es gibt. Aber die Sammlung hier muss doch viel mehr enthalten.«
Miss Cameron setzte sich wieder hin. Felicity spürte, dass die Bibliothekarin vieles wusste, das sie nicht preisgeben wollte.
»Die Autoren von Felicitys Buch, die den Ausdruck ›Urgeschichten‹ prägten, interessierten sich in erster Linie für die Hüterin der Winde, darum sammelten sie die Geschichten, die von ihr geschaffen wurden. Aber es gibt noch viele andere. Jede Geschichte, die bei einer Quelle erzählt wird, ist in gewisser Weise ein Wunsch, und weil sie immer und immer wieder wirklich wird, bestimmt sie den Lauf der Welt. Darum werden alle Urgeschichten hier sicher verwahrt. Es wäre« – die Bibliothekarin zögerte einen Moment – »nicht gut, wenn sie in falsche Hände gerieten.«
»Manche Urgeschichten sind schrecklich«, sagte Felicity. »Zum Beispiel die von der Besatzung der
Sturmwolke
. Das sind alles
Weitere Kostenlose Bücher