Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
sein.
»
Ein mitfühlendes Herz,
das klingt doch recht vielversprechend, nicht?«, sagte Martha.
Miss Cameron antwortete nicht.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Felicity beunruhigt. »Wir wissen nicht, was das alles zu bedeuten hat. Wie finden wir raus, was die Erdhexe vorhat?«
Die Bibliothekarin stand auf und ging zur Treppe. »Wir müssen abwarten«, sagte sie und lächelte den Kindern aufmunternd zu. »Im Moment fällt mir nichts Besseres ein, als für uns alle Tee und Toast zu machen.«
»Das ist ein prima Vorschlag«, meinte Henry erfreut. »Sorgen auf leeren Magen sind ganz schlecht für die Gesundheit.«
Sechstes Kapitel
L angsam zog der Herbst in Wellow ein und tupfte überall seine Farben auf. Aus der Ferne wirkte es, als läge die Stadt unter einem Teppich aus verblassenden Grüntönen, leuchtendem Gelb und sattem Braun mit feurig roten Einsprengseln. Die Luft roch würzig, und wo man auch ging, schritt man über raschelndes Laub.
Felicity hatte immer noch schreckliche Träume. Fast jede Nacht wachte sie weinend und völlig verängstigt auf, mit schmerzendem Kopf und enger Brust. Sie träumte, dass Henry nichts mehr von ihr wissen wollte und Martha vom Erdboden verschwunden war. Sie träumte, dass ihre kleine Schwester tot war, dass die
Herrin
immer noch in Wellow ihr Unwesen trieb und Felicity das Leben zur Hölle machte. Und im Hintergrund war andauernd dieses unheimliche, kratzende Geräusch da, das sie schon in ihrem ersten Albtraum gehört hatte.
Sie und ihre Freunde bemühten sich, mehr über die Erdhexe zu erfahren, aber sie fanden nichts Neues heraus.
»Sie scheint ganz nett gewesen zu sein, bevor die
Herrin
ihr ihren Geliebten ausgespannt hat«, sagte Martha eines Morgens auf dem Weg zur Schule.
»Ich bin bloß froh, dass die Erdhexe aus Stein war«, scherzte Henry. »Stellt euch mal vor, ihr Fleisch und Blut würde da überall rumschwirren. Das wär
richtig
gruselig.«
Felicity kicherte.
»Henry«,
sagte Martha vorwurfsvoll. Unwillkürlich strich sie über ihren Rock. »Na ja, wahrscheinlich ist sie nicht allzu mächtig, schließlich hat sie keinen Körper und besteht bloß aus Sand.«
Sie kamen am Schultor an. Eine Menge Schüler standen herum und genossen die wenigen Minuten, die ihnen noch bis Unterrichtsbeginn blieben.
Henry gähnte. »Ich hab schlecht geschlafen. Komisch, wo ich doch jetzt ein Zimmer für mich allein habe. Wahrscheinlich hab ich mich im Lauf der Jahre so an das Schnarchen und Grunzen meiner Brüder gewöhnt, dass ich ohne den Lärm gar nicht mehr in Ruhe pennen kann.«
Felicity stutzte. »Träumst du auch so schlimme Sachen?«, fragte sie. »Dass andauernd irgendwelche schrecklichen Dinge passieren?«
»Ja.« Henry nickte.
»Sonderbar«, sagte Martha, »mir geht es genauso in letzter Zeit.«
Felicity schrie auf. Sie strauchelte und stürzte, als plötzlich der Boden unter ihren Füßen nachgab und ein Stück weit einsackte, nicht sehr tief, einen Viertelmeter ungefähr, aber es war doch ein Schock. Quer über den Weg hatte sich ein Riss aufgetan, und die Erde davor war eingebrochen, sodass eine Stufe entstanden war.
In dem Moment, als Felicity den Halt verlor, empfand ein Teil von ihr trotz aller Panik mehr als blinden Schrecken. Sie war auch verwundert angesichts dieses Geschehens, das einen Moment lang einen Blick ins Innere, ins Tiefe der Welt zu ermöglichen schien. Im Geist sah sie lauter haarfeine Risse aus schwarzem Nichts über die vermeintlich feste Erdkruste laufen.
Sie hörte die aufgeregten Schreie der Schüler, die das Ereignis mitbekommen hatten. Martha und Henry beugten sich über sie und halfen ihr auf, andere Kinder kamen angerannt.
»Hast du dir wehgetan?«
Aber alle Äußerungen von Schrecken und Besorgnis wurden übertönt von höhnischem Gelächter.
Miranda Blake machte aus ihrer Schadenfreude keinen Hehl. Sie stand auf einer Bank und zeigte mit dem Finger auf Felicity. Einige der Kinder ringsum kicherten.
»Vielleicht siehst du
jetzt
endlich ein, dass du unbedingt was gegen dein Übergewicht tun musst«, schrie Miranda. Ihre Anhänger lachten.
Felicity wurde rot.
»Blöder Giftzwerg!«, rief Henry.
Miranda spitzte die Lippen zu einem hochmütigen Lächeln. »Ach ja, der kleine, dicke Ritter der Gallant macht sich wieder mal bemerkbar«, flötete sie spöttisch.
Felicity warf ihr einen finsteren Blick zu. »Du kannst froh sein, dass dir das nicht passiert ist. Wahrscheinlich wärst du in den Spalt gefallen und nie
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