Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
Leute, die als Kinder geraubt und zum Dienst auf dem Schiff gezwungen wurden.«
»Nicht alle Urgeschichten sind schlimm. Sicher, es gibt die von den verschleppten Kindern, aber auf der anderen Seite gibt es auch Geschichten von jungen Waisen, die in die Welt hinausfahren und in fernen Ländern ihr Glück finden. Und sie sind alle miteinander verstrickt und verwoben: Wenn man irgendwo einen einzelnen Faden rauszieht, kann es passieren, dass das ganze Geflecht sich auflöst.« Die Bibliothekarin strich ihren Rock glatt und sah Felicity an. »Du hast also Alices Tagebuch?«
Felicity stellte ihre Schultasche ab und zog das Buch heraus.
Miss Cameron lächelte, als sie las, was Alice in ihrem Briefchen geschrieben hatte. »Die gute Alice. Sie schätzt dich wirklich sehr und recht hat sie.«
Das Kompliment machte Felicity ganz verlegen. Sie senkte den Blick. Dann fiel ihr plötzlich das Blatt wieder ein, das sie entdeckt hatten. »Ach so«, sagte sie. »Das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen.« Sie reichte Miss Cameron den Zettel. »Das da steckte im Buchrücken, aber ich glaube, Alice wollte, dass wir es finden.«
Die Bibliothekarin las.
»Na ja, wahrscheinlich ist das für Sie nichts Neues«, meinte Felicity.
Miss Cameron schüttelte den Kopf. »O doch, davon wusste ich nichts.« Sie versank in nachdenkliches Schweigen.
»Irgendwie gefallen mir diese Geschichten von der Hüterin«, sagte Martha. »Es kommen so poetische Wörter drin vor, zum Beispiel ›alabasterfarben‹.« Sie seufzte verzückt.
»Blumiger Quatsch«, knurrte Henry.
Felicity schaute auf den Boden. Der mysteriöse weiße Sand war selbst hierher vorgedrungen und lag wie ein dünner Schleier auf den steinernen Platten. Sie starrte ihn an und da wurde ihr plötzlich ganz schwummrig im Magen. »Alabasterfarben ist
weiß
«, sagte sie schockiert. »Die Erdhexe verwandelte sich in
weißen
Granit und die
Herrin
ließ ihn aus großer Höhe hinabstürzen. Und jetzt ist er überall.« Sie fröstelte und wischte über ihre Jacke.
Martha sah sie verdutzt an.
»Das ist ja ekelhaft«, sagte Henry, der sofort verstand, was Felicity meinte. Auch er fing unwillkürlich an, Staub von seinen Kleidern zu klopfen.
Miss Cameron erstarrte.
»Millionen kleine Granitteilchen sehen aus wie Sand«, erklärte Felicity ihrer Freundin. »Dieser helle Sand überall hat nicht bloß was mit der Erdhexe zu tun, er
ist
die Erdhexe.«
»Iiiii!« Martha begann, hektisch an sich herumzuzupfen. »Scheußlich!« Sie war nahe dran, in Panik zu verfallen.
»Jetzt beruhig dich mal wieder«, sagte Henry freundlich.
Martha lächelte tapfer, aber Felicity sah ihr an, dass sie ganz verkrampft war.
»Komisch, dass sie sich immer noch bewegen kann, obwohl sie doch in lauter winzige Teilchen zerbrochen ist«, bemerkte Henry.
»Die Hüterinnen verdanken ihr Dasein einer Geschichte«, sagte Martha. »Man nimmt an, dass sie unsterblich sind – darum war ja die
Herrin
auch so gefährlich. Und auch wenn die Erdhexe zu lauter Sandkörnchen zerfallen ist, ist sie nicht wirklich tot.«
Henry wandte sich an Miss Cameron. »Was meinen Sie zu Felicitys Theorie?«, fragte er.
Die Bibliothekarin legte die Hände zusammen. »Ich fürchte, sie hat recht.«
»Ist das gut oder schlecht?« Wie immer redete Henry nicht lange drum herum.
»Ich weiß es nicht«, sagte Miss Cameron. »Alice hat ihre Macht immer zum Guten eingesetzt, aber von Aura kann man das nicht behaupten.«
»Wir sollten nicht gleich das Schlimmste von der Erdhexe denken«, meinte Martha. »Das wäre nicht fair.«
»Finde ich auch«, sagte Henry. »Sie kann schließlich nichts dafür, dass die
Herrin
ihre Schwester ist.«
Miss Cameron stand auf und nahm ein Buch aus dem Regal über ihrem Schreibtisch. »Hier steht etwas über die Erdhexe, aber es ist nur eine kurze Bemerkung. Und ansonsten weiß man nicht viel mehr, als dass die vier Schwestern sehr verschieden waren.« Sie schlug das Buch auf und deutete auf einen Absatz:
Die Hüterin des Wassers war fleißig, von praktischem Verstand und sehr verantwortungsbewusst. Die Hüterin der Erde hatte ein mitfühlendes Herz: Sie empfand die Leiden anderer, als wären es ihre eigenen. Die Hüterin des Feuers spielte anderen gerne boshafte Streiche, und es machte ihr Spaß, sich als Kupplerin zu betätigen. Die Hüterin des Windes schließlich konnte mit ihrem Charme selbst die Sonne vom Himmel herablocken, wenn sie es darauf anlegte, aber sie konnte auch unbarmherzig grausam
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