Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
Information, das wir haben,
alles
sein soll.«
»Ich glaube, im Fall der
Herrin
war es deswegen leichter, weil sie die Leute fasziniert hat«, meinte Martha. »Darum wurde viel über sie geschrieben.«
Tick.
»Sie hat Menschen entführt und gequält und umgebracht!« Henry schnaubte verächtlich.
»Ja, schon, es ist schrecklich, aber es ist auch spannend zu lesen, das ist doch klar.«
Felicity stand auf und zeigte ihren Freunden ein Bild in einem Märchenbuch, das sie entdeckt hatte. »Hilft uns zwar nicht viel weiter«, sagte sie, »aber es ist hübsch, oder?«
Tick, tick.
Das Bild stellte die gerade versteinerte Erdhexe dar, mit weißem Stift auf schwarzes Papier gezeichnet – das Herz, das immer noch in ihrer Brust schlug, leuchtete blutrot. Ihr schönes Gesicht war von Gram zerfurcht, als hätte sie tagelang geweint.
»Ein bisschen gruselig«, bemerkte Henry.
Tick, tick, tick.
Felicity warf einen Blick auf die Regale. »Ich frage mich die ganze Zeit, ob es hier irgendwo Mäuse gibt. Ich höre andauernd so komische Geräusche: ein Ticken und manchmal ein leises Knarzen.«
»Mäuse knarzen nicht«, sagte Henry.
»Sehr witzig.«
Tick, tick, tick, tick.
»Da ist es wieder. Habt ihr’s gehört?«
Henry blickte hoch. Die dunkelbraunen Regale, schmucklos und schlicht bis auf die vergoldete kleine Schnecke ganz oben, waren ihnen gut vertraut. Dicht an dicht standen die Buchrücken in ihren verschiedenen, vornehm gedämpften Farbtönen. Das Ganze wirkte unerschütterlich kompakt, es war wie ein Sinnbild von Festigkeit und Solidität.
Henry packte Felicity am Ärmel und zog sie weg. Die beiden stolperten, Felicity riss ihren Arm hoch. Und da sah sie, wie das hohe Regal vor ihr kippte, mit beängstigender Geschwindigkeit stürzte. Es krachte wie Donner, als Bretter und Bücher auf dem Parkett auftrafen. Der Nachhall schien eine kleine Ewigkeit lang in der Luft zu schweben.
»Martha!«
Felicity sah ihre Freundin auf dem Boden liegen, Blut lief über ihr Gesicht. Sie war am Kopf getroffen worden, aber immerhin hatte das Regal sie nicht unter sich begraben.
Felicity hatte schreckliche Schuldgefühle: Henry hatte sie gerettet und Martha war verletzt worden. Sie hastete zu ihrer Freundin. »Kannst du dich bewegen?«
Martha zwang sich zu einem tapferen Lächeln. »Scheint alles noch halbwegs heil zu sein, aber wahrscheinlich bin ich morgen am ganzen Körper grün und blau.« Sie setzte sich mühsam auf.
Miss Cameron stürzte aus dem Lesezimmer herein. »Was ist hier …« Sie brach ab.
Henry zitterte am ganzen Leib. »Mein Gott, Felicity«, stammelte er. »Das Ding hätte dich erschlagen können.«
»Mir geht’s gut«, sagte sie, »aber Martha ist verletzt.«
Martha biss sich auf die Lippen. Sie zuckte zusammen. Der Kopf tat ihr weh.
Miss Cameron half ihr auf und führte sie zu einem Stuhl. »Ich gehe den Erste-Hilfe-Kasten holen.« Felicity hielt Marthas Hand, bis die Bibliothekarin zurückkam und die Patientin verarztete.
Henry untersuchte die Wand, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Da sind Risse«, stellte er fest. »Der Boden hat sich gesenkt, darum ist das Regal umgestürzt. Es ist das Gleiche wie überall in der Stadt.«
»Die Erdhexe scheint entschlossen zu sein, so viel Unheil wie möglich anzurichten«, sagte Martha, während Miss Cameron die Wunde säuberte.
»Sieht nicht
ganz
schlimm aus«, murmelte die Bibliothekarin. »Ist dir schwindlig?«
»Ich glaube nicht, dass es eine Gehirnerschütterung ist«, sagte Martha dankbar.
»Wir werden dich gut im Auge behalten für den Fall, dass noch was nachkommt.«
Felicity atmete auf und schloss ihre Freundin erleichtert in die Arme. Marthas hübsche grüne Wolljacke roch nach Lavendel. Felicity kam wieder zu Bewusstsein, wie zart und zierlich Martha war. Die beiden lächelten einander an.
»Komisch«, sagte Martha, »zum ersten Mal wurde ein Gebäude beschädigt. Sonst waren immer nur Straßen und Wege betroffen.«
»Vielleicht hat die Erdhexe was gegen Bücher«, witzelte Henry.
»Wie kann man verhindern, dass so etwas noch einmal passiert?«, fragte Felicity.
»Man muss die Mauer irgendwie abstützen«, sagte Henry.
Miss Cameron blickte auf. »Das müsste man
unterhalb
der Mauer machen, oder?«
»Genau.«
Miss Camerons Hand fuhr hoch zu ihrer Schläfe. Sie sah richtig gequält aus.
Die Kinder sahen sie besorgt an.
»Direkt unter dieser Mauer liegt das Gewölbe, in dem die Urgeschichten aufbewahrt werden«, sagte sie. »Nur
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