Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
sie sich auch die übrigen Bücher an, aber es war überall das Gleiche.
Über allen Geschichten lag wie feiner, bleicher Dunst weißer Sand verstreut. Und die Körnchen schienen sich in winzigen Wirbeln zu bewegen
,
als wollten sie die handgeschriebenen Buchstaben auf den Seiten
wegschaben
.
Von der ruhigen Gelassenheit, die Miss Cameron sonst zur Schau trug, war plötzlich nichts mehr zu spüren, ihr Gesicht war verzerrt von Furcht und Zorn. Mit hektischen Bewegungen versuchte sie, den Sand von dem Papier zu wischen, aber die Körnchen sprangen weg, als wären sie und ihre Hand Magnete, die einander abstießen.
Felicity stockte der Atem. »Dass die Stadt langsam zerfällt, ist nur eine Begleiterscheinung, glaube ich«, sagte sie. Der Klang ihrer eigenen Stimme kam ihr fremd und seltsam vor. »Was die Erdhexe eigentlich will, ist etwas anderes: Sie will sämtliche Geschichten, die glücklich enden, ausradieren.«
Die Bibliothekarin blätterte mit zitternden Fingern in den Büchern. »Wieso ist mir das nie aufgefallen?«, murmelte sie. »Die Tinte ist schon ganz blass. Ich hätte es bemerken müssen. Ich wusste doch, dass der Sand etwas zu bedeuten hat.«
Felicity spürte, wie Panik in ihr hochstieg. Sie hatte Miss Cameron noch nie so mitgenommen gesehen.
»Was passiert, wenn diese Geschichten nicht mehr da sind?«, fragte sie ängstlich. Ihr war, als könnte alles wieder normal werden, wenn sie nur redete.
Die Bibliothekarin setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. Sie schien langsam die Fassung wiederzugewinnen.
»Die Welt ist eine Mischung aus Gut und Schlimm«, sagte sie langsam. »Nicht alles kann glücklich enden, so ist das Leben nun einmal. Aber wenn überhaupt nichts mehr gut ausgeht, das wäre …« Sie sah Felicity an. »Die Geschichten, besonders die guten, sorgen dafür, dass die Dinge so bleiben, wie wir sie kennen.«
Ihre Augen waren glasig. Offenbar war sie nicht imstande weiterzusprechen. Sie wirkte nicht mehr nur erschrocken, sondern zutiefst bestürzt. Felicity bekam eine Gänsehaut, als sie Miss Cameron so sah.
Siebtes Kapitel
E s war noch früh am Morgen, als Felicity erwachte. Da sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich bleischwer vor Müdigkeit, aber ihr schwirrte der Kopf so vor Angst und Sorge, dass es sie aus dem Bett trieb. Sie stand eilig auf, zog sich an und hastete durch die Stadt zu Henry und anschließend zu Martha.
Es war still in Wellow, nur Vogelgezwitscher und gelegentliches Gebell waren zu hören. Es war warm für die Jahreszeit. In der milden Luft konnten sich die verschiedensten Düfte und Gerüche voll entfalten.
Das schöne Wetter, fand Felicity, ließ den Ernst der Lage nur noch deutlicher in all seiner bedrohlichen Schärfe hervortreten. Wie konnte das Leben einfach so weitergehen, als ob gar nichts wäre?
Martha und Henry hörten schweigend zu, als Felicity ihnen berichtete, was sie und Miss Cameron in der Nacht entdeckt hatten.
»Was passiert mit den Geschichten, wenn sie ausradiert sind?«, fragte Martha.
»Ich denke, sie verschwinden aus der Welt. Und wie die dann aussieht, das zeigen uns diese Albträume, die wir alle haben: eine Welt, in der alles schlimm ausgeht.«
Martha wurde blass. »Das ist ja schrecklich«, sagte sie.
Sogar Henry wirkte bedrückt. »Heute Nacht hab ich geträumt, dass die Familie Usage in Wellow das Sagen hat«, erzählte er. »In dem Traum war Barbarous Usage noch am Leben. Und irgendwie war meine Mutter mit ihm verheiratet. Das war nicht schön, das könnt ihr mir glauben.«
Sie machten sich auf den Weg zur Bibliothek.
»Könnte das alles Wirklichkeit werden, wenn die Geschichten nicht mehr da sind?«, fragte Martha.
Henry zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich will es lieber nicht drauf ankommen lassen. Sehen wir zu, ob wir was dagegen unternehmen können.«
Der Platz hinter der Empfangstheke war leer. Die drei Freunde gingen in das Lesezimmer und die Treppe hinunter in das Gewölbe.
Miss Cameron saß am Schreibtisch. Links von ihr stand ein hoher Stapel Bücher, rechts ein sehr viel kleinerer. Offenbar waren die auf der linken Seite diejenigen, die sie noch durcharbeiten musste. Ihre Frisur war ziemlich durcheinander.
»Ah, Sie fahren die Schriftlinien mit frischer Tinte nach«, sagte Felicity erstaunt.
»Das Abschleifen dauert lang«, antwortete Miss Cameron. »Wenn die Schrift frisch ist, gewinnen wir Zeit, und die Geschichten bleiben so lange am Leben, bis Hilfe kommt.« Ihre lila-grauen
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