Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
patentieren?«, fragte Martha verwundert. Sie wusste, in welchen Verhältnissen die Twogoods lebten. »Dann wärt ihr reiche Leute.«
»Geld schafft mehr Probleme, als es löst«, sagte Will. Es klang, als hätte er selbst diesen Satz schon oft zu hören bekommen.
»Aber –«
Henry ließ sie nicht ausreden. »Mein Vater sagt immer, wenn wir erwachsen sind, können wir machen, was wir wollen. Aber in
seinem
Haus geht es einfach und bescheiden zu.«
In dieser Nacht träumte Felicity wieder einmal, dass sie hoch über der Erde schwebte, so hoch, dass sie die Welt als Kugel sah, die sich unter ihr drehte. Sie zuckte und wand sich hektisch im Schlaf, so schrecklich war das alles, was sie im Traum sah. Waisenkinder, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Großstadt kamen, aber nur ausgebeutet und misshandelt wurden und in schlimmstem Elend endeten. Alte Frauen, die Kinder, die sich im Wald verlaufen hatten, umbrachten und auffraßen. Liebende, die niemals zueinanderkamen und in unerfüllter Sehnsucht verzweifelten.
»Lauter Geschichten, die ganz furchtbar enden«,
sagte Wills Stimme in ihrem Kopf.
Der Mond stand hoch am Himmel, als sie aufwachte. Ihr Herz klopfte heftig. Dieses leise, kratzende Geräusch! Es hatte etwas Verängstigtes. Es tat ihr weh.
Ihr fiel ein, was Henry in der Bibliothek gesagt hatte, nachdem das Regal umgefallen war:
»Vielleicht hat die Erdhexe was gegen Bücher.«
Sie stand auf, zog sich eilig an, stahl sich die Treppe hinunter und aus dem Haus. Silbrige Wolken huschten über den mondhellen Himmel, an dem keine Sterne zu sehen waren.
Sie brauchte nicht lang, bis sie ihr Ziel erreichte: die Bibliothek. Sie wusste, dass Miss Cameron in dem Gebäude ihre Wohnung hatte. Felicity klopfte schüchtern. Vor ihren Füßen lag Sand. Er schimmerte wie Perlmutt und schien stumm und unbewegt zu warten. Sie bückte sich, nahm ein paar Körnchen davon zwischen Daumen und Zeigefinger und rieb. Da war es: dieses unverwechselbare kratzende Geräusch. Es überlief sie kalt.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Miss Cameron öffnete die Tür. Sie trug einen karierten Bademantel.
»Was ist los? Ist etwas passiert?«
Felicity öffnete den Mund, aber sie fand keine Worte, um zu erklären, warum sie hier war.
Doch Miss Cameron war nicht wie gewöhnliche Leute: Sie reagierte mit einem Lächeln, und da wusste Felicity, dass sie ganz beruhigt sein konnte. Die Bibliothekarin würde Verständnis für sie haben, ganz egal, ob ihre Theorie richtig oder falsch war.
»Ich mache mir Sorgen … Ich glaube, ich weiß jetzt, was die Erdhexe vorhat«, sprudelte sie hervor. »Na ja, vielleicht ist es auch ganz falsch, was ich denke, ich
hoffe,
dass es falsch ist. Es ist eigentlich unglaublich, aber …«
Sie verstummte und schnappte nach Luft, bevor sie fortfuhr: »Könnte ich mir vielleicht gemeinsam mit Ihnen die Bücher im Gewölbe ansehen?«
»Natürlich, komm rein.« Sie gingen ins Lesezimmer, vorbei an den Ölbildern prominenter Persönlichkeiten aus der Geschichte von Wellow, durch die Geheimtür. Miss Camerons Pantoffel machten nur ganz leise Geräusche auf den steinernen Stufen, die zu dem Gewölbe hinunterführten.
Es war schummrig in dem Raum, nur in einer Ecke brannte ein Licht. Felicity kam sich plötzlich vor wie eine Verrückte. Sie hatte doch nur
geträumt
. Nichts als Hirngespinste.
Aber irgendetwas in ihr ließ sich von solchen Zweifeln nicht beeindrucken.
»So wie ich Sie verstanden habe, gibt es Urgeschichten, die glücklich, und andere, die schlimm enden. Das stimmt doch, oder?«, fragte Felicity.
»So ist es.« Miss Cameron nickte.
»Sind die beiden Arten von Geschichten systematisch voneinander getrennt?«
»Nein.«
»Mich interessieren nur diejenigen, die gut ausgehen. Könnten wir die alle einzeln raussuchen?«
Miss Camerons Pupillen wurden weit. Offenbar ahnte sie, worauf Felicitys Theorie hinauslief. Sie trugen eine Anzahl Bücher zusammen. Miss Camerons Atem ging schnell und flach vor Anspannung.
Sie legten die Bücher auf den verschiedenen Arbeitsflächen aus und Miss Cameron schlug sie auf. Sie kannte die Geschichten und wusste genau, wo sie suchen musste. Ein angenehmer Duft nach Papier und Leder stieg von den alten Bänden auf.
Es war ganz still – doch plötzlich hörte Felicity ein feines Kratzen, so leise, dass es gerade noch vernehmbar war. Sie beugte sich über das Buch, das vor ihr lag, um es genauer zu betrachten, und zuckte zusammen. Ungläubig sah
Weitere Kostenlose Bücher