Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
aufgehört.
»Bin ich froh, dass mir diese grässlichen Bilder nicht mehr andauernd im Kopf herumgehen«, sagte Martha, als sie in der Schulmensa beim Essen zusammensaßen.
»Ja, manche ist man gar nicht mehr losgeworden.« Henry schob sich mit sichtlichem Behagen ein Stück Pizza in den Mund. »Es ist mir richtig auf den Magen geschlagen.«
Felicity dachte an all das Unglück, das sie in ihren Träumen gesehen hatte. Gott sei Dank würde nichts davon wahr werden. Sie seufzte erleichtert. »Ist das schön, wenn man wieder ruhig schlafen kann.«
Martha nickte. »Man merkt es überall. Die Leute sind nicht mehr so griesgrämig.«
»Meine Mutter geht auch nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit an die Decke«, sagte Henry. »Schon allein deswegen hat sich die öde Plackerei gelohnt.«
Felicity sah hinüber zur Essensausgabe, wo Henrys Mama in ihrem weißen Kittel hinter der Theke stand, und dann durch den Saal voller Kinder, die lebhaft schwatzten und lachten und lärmten. Sie wirkten plötzlich heiterer, wie erlöst. Es war, als würde erst jetzt, da die bösen Träume verschwunden waren, so richtig deutlich, wie sehr die Menschen darunter gelitten hatten.
Im Lauf der nächsten zwei Wochen bekamen die drei Freunde immer mehr Übung im Nachschreiben und die Arbeit strengte sie nicht mehr so sehr an. Sie konnten sich sogar nebenbei unterhalten, ohne dass ihnen deswegen Fehler unterliefen. Felicity war froh darüber, denn wenn niemand redete, hörte man das leise Kratzen des Sandes.
Die Kollegen von Miss Cameron hatten nichts mehr von sich hören lassen. Sie hatte noch zwei Rohrpostbriefe weggeschickt, jedoch keine Antwort erhalten.
»Vielleicht ist die Leitung verstopft und Ihre Briefe sind gar nicht angekommen«, meinte Martha.
Aber die Bibliothekarin sagte, es sei alles in Ordnung und sie müssten einfach ein bisschen Geduld haben.
Felicity lächelte. Miss Cameron war wieder ganz die Alte, gelassen und unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung. Sie stand auf, um sich die Beine zu vertreten und die verkrampften Finger ein bisschen zu lockern. Als sie so im Raum umherschlenderte, fiel ihr Blick auf das Buch, an dem Miss Cameron gerade arbeitete. Ein Wort stach ihr ins Auge. Sie stutzte, dann beugte sie sich über die Seite. »In dieser Geschichte kommt ja mein Name vor«, sagte sie verblüfft.
Die Bibliothekarin erstarrte. Niemand sagte etwas. In der Stille war das Reiben des Sandes zu hören.
»Ja, sie handelt von dir. Es ist die Geschichte, die dein Großvater geschaffen hat«, sagte Miss Cameron schließlich.
Felicity wusste, dass Rafe jahrelang in der Welt herumgereist war auf der Suche nach einer der Quellen, an denen Geschichten wahr wurden. Sie runzelte die Stirn. »Die Geschichte geht also gut aus?«
Miss Cameron nickte.
»Aber eigentlich wollte er doch eine Geschichte machen, die Felicitys Großmutter vernichten sollte, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Martha. »Das ist ja doch wohl kein
richtig
gutes Ende, oder?«
Man sah Miss Cameron an, dass ihr nicht ganz wohl zumute war. »Na ja, Rafe besann sich eines Besseren. Er erzählte eine andere Geschichte, weil er das Andenken seiner Tochter Ruby ohne Hass ehren wollte. Sie handelt davon, dass jedes Kind, das einsam und ausgegrenzt ist, die Freunde findet, die es braucht, und die Liebe, die es verdient, und in deinem Leben sollte das alles zum ersten Mal wahr werden.«
»Jedes Kind, das einsam und ausgegrenzt ist«,
wiederholte Felicity.
»
Die Freunde, die es braucht.
Das sind wir.« Henry grinste.
Felicity musste sofort an die Albträume denken, die sie gehabt hatte: Sie hatte immer wieder geträumt, dass Henry sich wie ein Fremder benahm und Martha nirgends zu finden war. Ihr Gesicht wurde totenblass. Sie schluckte. Was bedeutete das alles? Dass ihre Freunde sie gar nicht
wirklich
gernhatten, sondern sich das nur, durch den Zauber einer Urgeschichte gezwungen, einbildeten?
Martha sah, dass ihre Freundin mit den Tränen kämpfte. »Unsere Freundschaft ist echt«, sagte sie erschrocken.
Zorn stieg auf in Felicity. All die Leiden und Widerwärtigkeiten, die sie selbst, ihre Freunde und ihre Familie im zurückliegenden Jahr hatten ertragen müssen, als die
Herrin
sich bei ihnen im Haus eingenistet hatte, waren nur über sie gekommen, weil ihr Großvater geglaubt hatte, er müsse Schicksal spielen!
»Es war meine Idee«, sagte Miss Cameron. »Ich habe ihm vorgeschlagen, die Geschichte so zu machen.«
Felicity starrte sie mit funkelnden
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