Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
Augen wirkten müde. Bestimmt hatte sie die ganze Nacht hindurch gearbeitet.
»Wir würden Ihnen gern helfen«, sagte Felicity.
Henry nickte heftig.
»Bitte«, sagte Martha. »Sie müssen doch auch mal schlafen.«
Ein plötzliches lautes Zischen ließ die Kinder zusammenfahren, aber Miss Cameron blieb ganz gelassen. Sie öffnete eine Klappe an der Wand. Ein Kästchen, das in die Mauer eingelassen war, wurde sichtbar, und darin lag eine zylindrische Metallkapsel.
Henry schaute Miss Cameron fasziniert über die Schulter. »Toll! Sie haben hier ein
Rohrpostsystem
!«, rief er begeistert. »Ich hab so was bis jetzt immer nur auf Abbildungen gesehen.«
»Es ist in Wirklichkeit nicht ganz so praktisch, wie die Leute immer glauben«, meinte die Bibliothekarin. »Man staunt über die Wunder der Technik, aber letztlich ist es nicht viel mehr als ein nettes Spielzeug.« Sie öffnete die Kapsel und zog ein Papier heraus:
Das ist schön und gut, aber es dauert zu lang. Die Geschichten werden alle verschwinden, wenn es nicht gelingt, den Prozess aufzuhalten.
»Nummer zweiundvierzig? Ist das der Absender?«, fragte Felicity.
»Es gibt eine Menge Kolleginnen und Kollegen überall auf der Welt«, sagte Miss Cameron. »Jedes Mitglied unserer Vereinigung hat eine Nummer und die verwenden wir in der Kommunikation. Das ist kurz und eindeutig – die vielen Namen verwirren einen nur.«
»Eine internationale Vereinigung der Bibliothekare?« Marthas Augen leuchteten. »Haben Sie die um Hilfe gebeten? Wie
aufregend
.«
Henry schnaubte abfällig. »Du solltest eigentlich wissen, mein liebes Kind« – er tätschelte väterlich ihre Schulter –, »dass die Wörter ›Bibliothekar‹ und ›aufregend‹ einander ausschließen.«
Eine zweite Nachricht kam an:
Hilfe ist auf dem Weg.
»Wo befindet sich Nummer eins gerade?«, fragte Felicity.
»Wir sind gehalten, keine persönlichen Informationen an Außenstehende weiterzugeben«, sagte Miss Cameron.
Martha bekam Stielaugen. »Es ist
geheim
!« Sie sah Henry tadelnd an. »Willst du immer noch behaupten, das ist nicht aufregend?«
Felicitys Blick fiel auf Miss Camerons Plätzchendose. Sie war leer. »Was kann es Besseres zum Frühstück geben als Plätzchen?«, sagte sie, ohne nachzudenken.
Die Bibliothekarin senkte den Blick.
Henry pfiff leise.
»Sehen Sie?«, sagte Martha. »Sie haben keine Wahl, Sie
müssen
unsere Hilfe annehmen.«
Es dauerte nicht lang, dann hatten Miss Cameron und Martha einen Plan erstellt, in dem genau geregelt war, wer wann und wie lange Schreibdienst hatte. Die Bibliothekarin hatte sehr präzise Vorstellungen, wie die Arbeit zu machen war, damit die Urgeschichten möglichst gut erhalten blieben.
»Den brauchst du nicht«, sagte sie zu Henry und nahm ihm energisch den Schulfüller weg, den er aus seiner Tasche gekramt hatte. Jedes Kind bekam einen nagelneuen Füllfederhalter und dazu ein Fässchen beste Tinte. Felicity wog ihren Füller prüfend in der Hand. Er war ungewohnt schwer, glänzend schwarz und hatte eine massiv goldene Feder. Im Vergleich mit diesem edlen Schreibinstrument wirkte ihr Schulfüller wie billiger Plunder. Sie zögerte, bevor sie die Feder aufs Papier setzte: Irgendwie kam es ihr respektlos vor, auf diese Seiten zu schreiben, auch wenn sie es nur tat, um die Urgeschichten vor der Zerstörung zu bewahren. Aber dann überwand sie ihren inneren Widerstand. Die Feder kratzte ein bisschen, doch die schwarze Tinte floss stetig, lag einen Moment lang wie ein glänzender Faden auf dem Papier und wurde dann aufgesaugt.
»Wenn ich aus Sand wäre«, bemerkte Henry, »wüsste ich was Besseres mit meiner Zeit anzufangen, als Geschichten auszuradieren. Ich würde geheime Missionen ausführen und Motoren von feindlichen Flugzeugen lahmlegen, solche Sachen eben.«
Martha ging nicht darauf ein. »Wenn wir die Arbeit auf uns vier aufteilen, schaffen wir es.«
»Ja, wenn wir jeden Abend zwei Stunden schuften wie die Blöden«, sagte Henry, nachdem er sich umgeschaut und gesehen hatte, dass Miss Cameron gerade nicht in Hörweite war.
»Willst du damit ausdrücken, dass sie zusehen soll, wie sie alleine damit zurechtkommt?«, fragte Martha.
»Natürlich nicht. War nicht so gemeint.«
Henry murrte, aber er dachte nicht daran, die Arbeit abzubrechen. Und es zeigte sich bereits, dass ihre Anstrengungen, die Erdhexe in Schach zu halten, nicht vergebens waren: Die schlimmen Träume hatten praktisch von einem Tag zum nächsten
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