Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
zeigte vom Großsegel weg: Der Wind hatte sich gedreht, was Povl Usage offenbar nicht bemerkt hatte. Eine Idee schoss Felicity durch den Kopf, eine riskante Idee. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
Er will dich umbringen, du hast nichts zu verlieren,
dachte sie.
Felicity nahm allen Mut zusammen und zog mit einem Ruck die Pinne zu sich heran.
Der Wind fuhr ins Segel, der Großbaum schlug auf die andere Seite und das Boot stellte sich quer. Felicity flog durch die Luft und platschte ins eisig kalte Wasser. Sie tauchte keuchend und hustend auf. Die Kälte schien ihren ganzen Körper zu durchdringen.
Sie schaute sich um. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah sie die steuerlose
Ruby
auf sich zukommen und tauchte ab. Aber es war zu spät: Der hölzerne Rumpf des Boots streifte ihren Kopf. Es tat scheußlich weh. Aber sie kam wieder hoch. Das eisige Wasser umschloss ihre Brust mit brutaler Gewalt.
Die
Ruby
war gekentert, von Povl Usage keine Spur. Felicity starrte schockiert auf das Boot, noch benommen von dem Schlag auf den Kopf, doch dann erwachte ein grimmig entschlossener Überlebenswille. Sie wusste, dass sie im Wasser in wenigen Minuten erfrieren würde. Sie schwamm auf das kieloben treibende Boot zu, nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Sie musste das Boot aufrichten, bevor Povl Usage wieder auf der Szene erschien.
Da trieb ein loses Tauende. Sie streckte den Arm danach aus.
Sie schrie auf, außer sich vor Entsetzen. Der Schrei ging in Gurgeln über, denn sie wurde unter Wasser gezogen. Povl Usage hatte sie an den Knöcheln gepackt und zerrte sie in die Tiefe. Felicity strampelte wild, aber er ließ sich nicht abschütteln.
Sie schaute nach oben durchs trübe Wasser. Ihre Lungen fühlten sich an, als würden sie gleich platzen. Sie befanden sich direkt unter der umgekippten
Ruby
. Sie zappelte und wand sich, seine Finger rutschten ab, sie war frei. Sie schoss nach oben in den Rumpf des Boots. Es war dunkel dort, und es gab nur wenig Raum, aber sie konnte den Kopf aus dem Wasser strecken und Luft holen. Sie trat mit aller Kraft nach unten, um sich ihren Peiniger vom Leib zu halten. Ihr Fuß traf seinen Körper. Sie hoffte, dass es ihm wehtat.
Sie würde sterben.
Der Gedanke blitzte in ihr auf, aber zugleich wusste sie ganz tief in ihrem Inneren, dass das nicht sein konnte, sie war nicht bereit zu sterben: Sie musste Martha noch sagen, wie leid es ihr tat, sie wollte Olivia in den Arm nehmen und mit Henry lachen. Sie spürte das kleine, hölzerne Boot an ihrem Hals.
Sie wollte Jeb küssen.
Dann war Povl Usage wieder da und zog sie hinunter. Seine knochigen Finger umklammerten ihre Beine. Felicity biss die Zähne zusammen. Sie würde um ihr Leben kämpfen.
Sie ging zum Angriff über, boxte und trat nach ihm mit all ihren Kräften. Das Wasser war so trübe von dem weißen Sand, dass sie kaum etwas sehen konnte, aber das war ihr egal. Sie traf seine knochige Brust, sein blasses Gesicht, seine mageren Arme. Wild fuchtelnd versuchte er, sie abzuwehren und zurückzuschlagen.
Dann plötzlich war ihr, als hörte sie einen dumpfen Knall, und Povl Usages Körper wurde schlaff und leblos. Schockiert ließ sie von ihm ab.
Sein Gesicht war nun ganz deutlich in dem Dämmerlicht zu sehen – das Wasser war mit einem Mal kristallklar. Er grinste, das verzückte Lächeln eines Irrsinnigen machte sich in seinem Gesicht breit. Dann entschwand er ihrem Blick wie ein Gespenst.
Felicity schoss an die Oberfläche, schnappte gierig nach Luft. Ihre Lungen brannten, ihre Kehle tat ihr weh. Das nasse Holz des Boots war schlüpfrig, aber irgendwie gelang es ihr, sich aus dem Wasser zu hieven und auf den Rumpf der
Ruby
zu steigen. Voller Schrecken blickte sie übers Wasser, aber da war nichts. Povl Usage war weg. Sie hustete und würgte, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Die Wellen um sie herum waren still und friedlich.
Wie sie es schaffte, die
Ruby
aufzurichten, wusste Felicity selbst nicht. Von Schluchzern geschüttelt, stand sie auf dem Kielschwert und zog die Segel aus dem Wasser. Dann kletterte sie ins Boot und segelte zurück in den Hafen.
Ihre Hände und Füße waren gefühllos, sie zitterte am ganzen Körper vor Kälte. Am Himmel wirbelten Wolken so düster wie ihre Gedanken. Aber das Wasser sah deutlich weniger bleich und trüb aus als bei ihrer Ausfahrt.
»Bist du verletzt?«, rief eine vertraute Stimme. Es war die von Jeb, der auf dem Anlegesteg stand. Er war totenblass vor Angst und Sorge, seine langen Haare waren
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