Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
wieder in Ordnung war, oder nicht? Sie war so erholt aufgewacht wie seit Monaten nicht mehr.
Sie blickte auf. Vor ihr an der Straßenecke stand Jeb, gekleidet in einen dunklen, dick gefütterten Mantel, an den Füßen klobige Winterstiefel. Er wirkte nervös. Felicity errötete.
»Hast du Lust auf einen Spaziergang?«, fragte er. »Es ist schön so früh am Morgen, wenn noch niemand unterwegs ist.«
Alle Gedanken an Povl Usage, die Erdhexe und mögliche Gefahren lösten sich in nichts auf.
»O ja, gerne«, sagte sie lächelnd.
Sie wanderten zur Stadt hinaus. Es hatte aufgehört zu schneien, über die ganze Landschaft breitete sich eine schimmernde Schneedecke. Die kahlen Zweige der Bäume sahen aus wie mit weißem Zuckerguss verziert. Felicity schritt beschwingt dahin. Sie spürte das kleine Boot unter ihrem Schal und lächelte. Sie konnte sich nicht erinnern, je zuvor so glücklich gewesen zu sein.
Lange spazierten sie unbeschwert plaudernd durch den Schnee. Die dicken weißen Wolken zerstreuten sich, die Sonne kam heraus und tauchte die Welt in gleißendes Licht. Jeb sah immer wieder zu Felicity hinüber, als wollte er sich davon überzeugen, dass sie noch da war.
Schließlich gelangten sie zu den Klippen. Felicity setzte sich auf einen Zauntritt am Weg. Schweigend trat Jeb vor sie hin, zupfte ihren Schal zurecht und zog ihre Mütze, unter der einige widerspenstige Locken hervorguckten, etwas tiefer.
Felicity sah ihm in die leuchtend grünen Augen. Sie spitzte leicht die Lippen.
»Hey, Junge!«, schallte es aus einiger Entfernung. Sie schauten auf.
Es war Isaac. Jeb fluchte leise.
Sein Großvater kam näher, in einer Hand seine nach Vanilletabak duftende Pfeife. »Schön, nicht?«, rief er strahlend. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir so spät im Winter noch so viel Schnee kriegen.«
»Hmmm«, brummte Jeb.
»Martha sucht euch«, fuhr Isaac fort. »Sie war ganz aus dem Häuschen.«
Felicity und Jeb sahen einander an.
»Am besten geht ihr gleich zu ihr«, sagte Isaac. »Was für ein glücklicher Zufall, dass ich euch getroffen habe.« Er zwinkerte spöttisch.
»Ein großes Glück, echt wahr«, knurrte Jeb.
Felicity konnte sich ein Lächeln nicht verbeißen. »Ich muss sowieso nach Hause. Olivia hat doch heute Geburtstag«, sagte sie. »Aber ein bisschen Zeit habe ich noch.«
»Ist in der Bibliothek alles in Ordnung?«, fragte Jeb.
»Sah ganz okay aus«, antwortete Isaac.
»Also dann, gehen wir«, sagte Jeb. Er nahm Felicity bei der Hand, als wäre das ganz normal. Sie warf ihm einen Blick zu und er lächelte. Isaac schien es nicht zu bemerken.
Sie wanderten zurück in die Stadt, alle drei sehr gesprächig und bester Laune. Und Felicity spürte die ganze Zeit Jebs Hand in der ihren.
»Wo habt ihr gesteckt?«, fragte Henry, als sie in die Bibliothek kamen. Sein gereizter Ton machte deutlich, dass er bereits ziemlich lange ziemlich ungeduldig gewartet hatte. »Wir haben überall nach euch gesucht.«
Martha saß an einem Tisch, auf dem eine Menge Bücher und Papiere lagen. Zahlreiche Blätter waren mit Notizen in Jaspers ordentlicher Handschrift bedeckt.
»Wir waren spazieren. Ist was passiert?«, fragte Felicity.
»Klar, was hast du gedacht? Dass wir wegen nichts und wieder nichts in der Gegend rumrennen und nach euch suchen?«, fauchte Henry.
Martha klopfte mit ihrem Füller auf die Tischplatte. »Können wir jetzt vielleicht anfangen?« Sie hatte Henrys schlechte Laune schon den ganzen Vormittag lang ertragen und war mit ihrer Geduld am Ende.
»Ich kann nicht lange bleiben«, sagte Felicity.
»Martha hat die Botschaft von Alice entschlüsselt«, platzte Henry heraus.
Felicity fiel der Unterkiefer herunter. »Ich dachte, der Code ist nicht zu knacken.«
Martha schüttelte den Kopf. »Alice war nicht so schusselig, wie wir gedacht haben. Sie hat in ihrem Brief an dich eine Dechiffrieranweisung versteckt.« Sie hielt Felicity das Schreiben hin und zeigte der Reihe nach immer auf das erste Wort jeder Zeile:
Liebste Felicity,
immer denke ich wehmütig an die Stunden zurück, die wir
zwei miteinander verbracht haben. Darum hier ein kleines
Zeichen meiner Verbundenheit. Aber wenn ich den Blick
vorwärts richte, bin ich froh: Du hast Freunde, auf die Du
zählen kannst – das ist ein großes Glück. Bei Euren Fahrten
und Ausflügen im vergangenen Jahr hast Du unter Henrys
Anleitung Freude am Segeln gefunden. An sportlichen Er-
folgen wird es Dir in der Zukunft sicher nicht
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