Felidae 06 - Schandtat-neu-ok-22.02.12
ohne daß
sie einen Sinn ergaben. Und wie war es mir danach möglich gewesen, den Anschluß
an diese wunderliche Prozession zu finden? Fragen, die zu beantworten mein
erschöpftes Hirn nicht mehr in der Lage war.
Allmählich gewann die Umgebung um mich herum an Kontur,
was schon mal ein gutes Zeichen war. Leise spürte ich, wie Aufnahmefähigkeit
und Kraft wieder in mich hineinströmten, wenn auch auf Sparflamme. Ich stellte
überrascht fest, daß wir uns inzwischen nicht einmal mehr in der Nähe des Sees
aufhielten, sondern auf einem verwucherten Terrain. Die schier grenzenlos
scheinende, höckerige Landschaft mit vereinzelten Gestrüppkolonien und
ineinandergewachsenen, krüppeligen Bäumen kam mir bekannt vor. Weit und breit
weder Menschen- noch Tierseele zu sehen, außer natürlich die eigenartig
schweigsame Truppe vor mir. Die führte Refizul an – glaubte ich jedenfalls.
Doch instinktiv erfaßte ich, daß mit den Wanderern etwas nicht stimmte. Die
Nachthemdenträger schienen irgendwie stark gebückt zu gehen, sie schlurften
eher, und bei einigen von ihnen vermeinte ich sogar den Ansatz eines Buckels zu
erkennen. Solch inflationäre Rückgratverkrümmungen waren mir in der Anstalt gar
nicht aufgefallen. Was meine Artgenossen anging, so nahm ich ebenfalls eine
Veränderung wahr, allerdings in ihrem Verhalten. Hatten sie sich vor der Flucht
als muntere und ziemlich lautstarke Unterstützer der Patienten gegeben, so
machten sie auf einmal einen verängstigten Eindruck, geradeso, als nähmen sie
nur deshalb kein Reißaus, weil sie nicht wußten, wohin sie fliehen sollten.
Kurzum, alle und alles schien unter dem Einfluß des Vollmondes zu stehen.
Plötzlich wurde es hell. Nein, nicht plötzlich, das Licht
wurde ganz langsam immer stärker. Und zwar in einem unmittelbar vor uns
befindlichen Gebäude. Und als der Lichtschein uns schließlich aus zerbrochenen
Fenstern entgegenstrahlte, wußte ich endlich, wo wir gelandet waren, nämlich
genau bei der heruntergekommenen Villa. Geräusche drangen daraus ins Freie,
eine seltsame Kombination aus einer kehlig hervorgestoßenen Sprache,
urtümlicher Musik und schrägem Gesang. Die audiovisuellen Geräte drinnen waren offensichtlich
wieder angeschaltet worden. Aber wie konnte das angehen? Wartete dort jemand,
der unsere Ankunft mit großem Tamtam feiern wollte? Oder war irgendeine
Fernbedienung im Spiel?
Die Karawane erreichte endlich den Zufluchtsort. Wir
stiegen über die morsche Veranda, gingen hinein und versammelten uns im Salon.
Es brannte eine Vielzahl an Kerzen, die den riesigen Raum dämmerig
erleuchteten. Die Spulen der Tonbänder kreisten, die Kassettenrecorder liefen,
das Vinyl drehte sich auf den Plattentellern, und die Videorecorder zauberten
höchst merkwürdige Filme auf die Monitore. Auf einem lief »Triumph des Willens«
von Leni Riefenstahl, der Propagandafilm über den NSDAP-Reichsparteitag 1934,
und auf einem anderen waren die verwackelten Aufnahmen von einer dekadenten
Party mit halbnackten Menschen an einem Swimmingpool zu sehen. Blutbesudelte
Nackedeis tanzten um einen Götzen. Aus den Lautsprechern dröhnten Haßtiraden
von irgendwelchen Predigern und Interviews mit Kinderschändern im Knast. Dann
wieder Kriegsgesänge von Urwaldstämmen, die sich solcherweise mit Mut
aufpumpten, bevor sie den Nachbarstamm massakrierten, und Reden von Gevatter
Josef Stalin. All dieses aus Menschenmund entströmende Übel verquoll
miteinander und wurde zum akustischen Äquivalent von Erbrochenem. Und schon
bald war es nur noch ein unerträglicher Radau, eine disharmonische Melodie des
Bösen, welche in den Ohren schmerzte. Ich begriff allmählich, welchem Sound
Refizul hier in Wahrheit die ganze Zeit gelauscht hatte.
Auch die Optik glich sich der Akustik immer mehr an.
Obwohl die Kerzen nicht mehr als einen schwachen Schein erzeugten und alle
Anwesenden teilweise von Schatten verhüllt wurden, glaubte ich meinen Augen
nicht zu trauen. Meinen Artgenossen erging es offenkundig genauso, denn sie
wichen vor den Patienten a. D. peu à peu zurück. Die
neugewonnene Freiheit schien die Greise weder zum Blühen zu bringen noch ihnen
sonst irgendwelche freundlichen Züge zu entlocken. Ganz im Gegenteil, sie waren
in einer Metamorphose der besonderen Art begriffen – und verwandelten sich
stetig weiter! Nicht allein, daß Männlein und Weiblein immer schlimmere Buckel
bekamen, sondern auch andere Körperteile, vor allem jedoch die Physiognomien,
lieferten sich einen
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