Felidae 4 - Das Duell
meiner Ecke heraus. Ehrfurchtsvoll zu den Eiskolossen aufschauend, trippelte ich durch die Lücken hindurch. En passant fielen mir die Gerätschaften der Künstler auf, die auf dem Boden verstreut herumlagen. Das gebräuchlichste Instrument schien überraschenderweise die Motorsäge zu sein. Neben fast jeder Skulptur lag eine solche, dazu Schlageisen, große und kleine Feilen und Propanlötlampen. Einiges Rätselraten bereiteten mir die spaghettitellergroßen, von Stahlringen eingefaßten Löcher im Boden. Ich überlegte, welchen Zweck sie erfüllen könnten. Dann fiel der Groschen. Durch sie konnte sich der Bildhauer des vom Block geschlagenen Eises entledigen, der sich sonst in seiner unmittelbaren Nähe zu Bergen von Abfall aufgetürmt hätte. So wanderte er vermutlich direkt in ein Auffangbecken im Keller, wo er schmolz und dann in die Kanalisation abfloß.
Die milchig glänzenden Augen eines Grizzlys starrten auf mich herab, während ich mit angehaltenem Atem zwischen den Skulpturen wandelte. Drachenmäuler voll scharfer Eiszähne streckten sich mir entgegen. Ich schlich unter den Eisbrüsten von Meerjungfrauen entlang, die die Größe von Tankern besaßen, und streifte ganze Flotten von Rentierschlitten, die von dem guten alten Weihnachtsmann kutschiert wurden. Eben dabei, aufs neue die Orientierung zu verlieren, bog ich um Schloß Neuschwanstein (in nur unwesentlich kleinerem Format als das Original) und erspähte in der Ferne, wonach ich gesucht hatte.
Adrian hatte sich auf einer Eisscholle im Gewühl einer Pinguinfamilie niedergelassen. Er hielt sich hinter einem der Vögel verborgen und beobachtete mit vorgestrecktem Kopf offenkundig etwas, das weiter entfernt lag. Ich stahl mich leise heran, ohne daß er mich bemerkte, und kletterte auf die Eisscholle. Anschließend positionierte ich mich in einem Abstand von zirka drei Metern zu ihm ebenfalls hinter einem Eispinguin, so daß ich von Adrian nicht gesehen werden konnte. Ich folgte seinem Blick und erkannte endlich, was ihn so fesselte.
Fabulous hielt sich in großer Entfernung neben dem säulendicken Fuß eines Tyrannosaurus Rex auf und weinte. Sie hatte sich auf die Hinterpfoten gesetzt, den Kopf nach oben gestreckt und sprach, während ihr die Tränen nur so aus den Augen flossen, aufgeregt auf jemanden ein. Dieser Jemand verbarg sich hinter dem Riesenbein der Echse und schien ganz offenkundig ein Mensch zu sein. Es schien ein Mensch zu sein, denn man konnte durch das Eis lediglich den Schatten einer aufrecht stehenden menschengroßen Gestalt erkennen. Der Anblick war eigentlich absurd genug. Doch den Vogel schoß Fabulous mit ihrem Verhalten ab, weil ... nun ja, wir können mit Menschen nicht sprechen! Und wenn wir es täten, verstünden sie uns nicht.
Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Und warum zum Teufel mußte ich mir mein Bild von Fabulous als einer skrupellosen Lügnerin schon wieder zerstören lassen! Denn ihr Anblick war in der Tat herzzerreißend, wie sie mit der Pfote die Tränen aus ihrem Gesichtsfell putzte, flehentliche Worte an den Fremden über ihr richtete, dann heftig den Kopf schüttelte, als wolle sie seine Antworten nicht akzeptieren, um schließlich von neuem in Tränen auszubrechen. Sie wirkte in dieser jämmerlichen Pose gar nicht mehr wie die Wuscheldiva von einst, die mit ihrem lasziven Blick aus goldglühenden Augen schon so viele Männerherzen gebrochen hatte. Nun schien ihr selbst das Herz zu bluten. Vom bloßen Zuschauen hatte ich einen Kloß im Hals.
Mein Theorienkonstrukt schmolz angesichts der neuen Entwicklung in sich zusammen wie ein Eisberg auf Urlaubsreise in Afrika. Jeder ach so geniale Ansatz zur Lösung des Rätsels hatte nur neue Rätsel hervorgebracht. Nun wußte ich wirklich nicht mehr weiter. Deshalb erschien es mir keineswegs als ein Zeichen von Schwäche, mich gleich dem Fachmann anzuvertrauen:
»Pssst!« machte ich, sozusagen von einem Pinguin zum andern.
Adrian reagierte nicht. Er schien geradezu überwältigt von dem, was sich dort drüben bei dem Dinosaurier abspielte. Jetzt reckte er den Kopf noch höher über die Eisskulptur hinaus, um bessere Sicht zu bekommen. Es schien, als sei er von dem Schauspiel noch mehr überrascht als ich. Ich huschte hinter den nächsten Pinguin, ein Stück weiter in seine Nähe.
»Pssst!«
Offenkundig hatte er wieder nichts gehört.
Diesmal übersprang ich tollkühn gleich zwei Pinguine und verbarg mich hinter einem Exemplar, das nur noch einen
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