Felidae 8 - Göttergleich: Ein Felidae-Roman
alles in Ordnung ist. Wieso starrte ich überhaupt wie hirnamputiert diese blöde Uhren an, anstatt schön gemütlich draußen im Garten den Mond, der sich ja wohl ebenfalls rückwärts bewegen würde, falls die Zeit es tat. Nein, nicht all diese vielen Uhren vor meinen Augen waren blöd, sondern einzig und allein ich. Deshalb gab ich meinen Lidern den Befehl, sich einfach gehen zu lassen und herunterzufallen …
Als mit einem Mal alle Uhren stehen blieben. Aber nur für eine Sekunde. Danach begannen die Zeiger sich rückwärtszudrehen. Die Zahlen der Digitalanzeigen nahmen kontinuierlich ab, der Sand in der Sanduhr rann nicht vom oberen Kolben in den unteren, sondern umgekehrt, und der Schatten der Sonnen/Mond-Uhr bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung.
Gut, es gab Schlimmeres im Leben. Ähm, na ja, vielleicht auch nicht. Vielleicht gab es ab jetzt überhaupt nichts Schlimmes mehr im Leben. Denn gewöhnlich entwickelte sich ja etwas vom Guten zum Schlimmen. Aber so?
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Der ganze Spuk dauerte exakt acht Minuten und sechsundfünfzig Sekunden. Ich hatte ja die Uhren vor Augen. Dann liefen die Zeiger wieder im Uhrzeigersinn. Dazwischen allerdings fühlte ich mich wie die gemarterte Marionette eines diabolischen Puppenspielers. Und einer bewegungsunfähigen noch dazu. Denn ich hatte ja in diesen acht Minuten und sechsundfünfzig Sekunden in der Vergangenheit nichts Großartigeres unternommen, als nur still vor den Bildschirmen und Touchscreens zu hocken und die Uhren in Schach zu halten. Infolgedessen befahl mir das Diktat der rückwärtslaufenden Zeit nichts anderes, als wieder genau in dieser Haltung auszuharren. Obwohl grenzenlos spektakulär, war es zugleich eine recht spannungsarme Angelegenheit.
Aber nur, was das Äußere betraf. Ich konnte mich zwar weder vom Schreibtisch erheben noch irgendetwas anderes tun, was ich in den letzten Minuten nicht getan hatte. Doch in meinem Innern brodelte es wie in einem gerade erwachten Vulkan. Wie beim ersten Mal blieb meine geistige Aktivität von dieser geheimnisvollen Erscheinung völlig unbeeinträchtigt, und so kroch in mir wieder die Angst
hoch, dass es keine Rückkehr in die Gegenwart mehr geben würde, das heißt in eine zukunftsgerichtete Gegenwart. Das schrecklichste Gefängnis ist wohl die Vergangenheit. Und selbst wenn sie die allerbeste Zeit gewesen sein mag, sie hat mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Wer verdammt ist, sich stets in der Vergangenheit aufzuhalten, ist eine wandelnde Leiche.
Zu meiner großen Erleichterung jedoch kehrte die Gegenwart wieder zurück, der Aussetzer setzte erneut aus, sozusagen. Wie befreit aus einem Ganzkörpergips, sprang ich auf und schüttelte mich. Ein wilder Impuls in mir verlangte nach sinnfreier körperlicher Betätigung, laufen, hüpfen, hechten, egal was, Hauptsache, selbst bestimmen, was der Körper zu tun und zu lassen hat. Dann jedoch setzte ich mich wieder auf die Hinterpfoten. Ich war zwar aufgewühlt, zwang mich aber mit aller Macht, nicht die Nerven zu verlieren und das Geschehene zu analysieren. So begann ich zunächst eine Bestandsaufnahme der Ergebnisse meines Experiments. Zuerst die gute Nachricht: Offenbar handelte es sich bei dieser Art von zeitlicher Wahrnehmungsstörung um eine lediglich temporär auftretende und sehr kurze Episode. Man konnte also mit ihr leben wie mit einer geringen Behinderung. Na und, dann lief halt die Zeit ein paar Mal am Tag für ein paar Minuten rückwärts, was soll’s? Immer noch besser, als sich urplötzlich in einer Ausstellung für Rasseköter wiederzufinden. Die schlechte Nachricht: Was war, wenn es sich nicht um eine Wahrnehmungsstörung handelte? Aber was konnte es dann sonst sein?
Schnell ging ich ins Internet und rief Google auf. »Umgekehrte Wahrnehmung« tippte ich ins Suchfeld ein, worauf
sich Tausende von Links aufreihten. Sie verwiesen auf alle möglichen Themen, von wirtschaftlichen Theorien bis zu politischen, nur nicht auf das, wonach ich fahndete. Eigentlich war es zu erwarten gewesen, denn von einer Krankheit, welche einem vortäuscht, die Zeit laufe rückwärts, hätte ich auch ohne das Internet schon etwas gehört haben müssen.
Allein ein Artikel über das Auge auf einer Wissenschaftsseite kam der Sache zumindest ansatzweise nahe. Darin hieß es: »Das Auge nimmt ein gewisses Ziel in Raum und Zeit wahr. Diese Lichtstrahlen wandern zur Augenlinse, die sie auf den Kopf stellt. Die Retina, die ein Teil des Auge-Gehirn-Systems darstellt, registriert
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