Felidae
ihm ein für allemal das Mörderhandwerk zu legen. Aber anstatt mich auf ihn zu stürzen, war ich plötzlich maßlos irritiert: Ich empfand Mitleid für ihn. Einer sonderbaren Ahnung folgend, fragte ich ihn schließlich:
»Wie bei den Bremer Stadtmusikanten?«
Er nickte bedächtig.
»Genau, wie bei den Bremer Stadtmusikanten: ›Komm mit‹, sagte der Esel zum Hahn, ›etwas Besseres als den Tod findest du überall!‹«
Das Riesenheer meiner Artgenossen im Hintergrund rief bestätigend im Chor:
»Komm mit! Etwas Besseres als den Tod findest du überall!«
Der Mörder wandte sich von mir ab und begab sich wie schwebend zu den anderen. Dann wurde er ein winziger Teil dieser Masse und blickte noch einmal zurück.
»Komm mit uns, Francis«, sagte er eindringlich. »Komm mit uns auf die lange, wunderbare Reise.«
Nun drehten sie mir alle den Rücken zu und wandelten gemächlich in den dichten Nebel hinein.
»Wohin geht die Reise?« rief ich ihnen nach.
»Nach Afrika! Nach Afrika! Nach Afrika! ...« riefen sie wie aus einem Mund, während sie allmählich im Nebel verschwanden.
»Und was werden wir dort finden?« wollte ich noch wissen.
»Alles, was wir verloren haben, Francis, alles, was wir verloren haben ...«, hörte ich sie wispern. Aber sie waren nicht mehr zu sehen, waren schon eins geworden mit dem magischen Nebel.
Langsam erfüllte mich eine unerträgliche Trauer, weil ich ihnen nicht gefolgt war, weil ich mich gefürchtet hatte, diese lange Reise anzutreten, und weil ich jetzt so ganz alleine dastand. Afrika! Es hörte sich so verlockend, so geheimnisvoll und so aufregend an. Alles, was man sich erträumte, gab es dort, dies flüsterten mir meine unfehlbaren Instinkte zu. Afrika! Das verlorene Paradies, das Eldorado, das gelobte Land, wo einst alles begann. Doch Afrika lag so unvorstellbar weit entfernt, und ich war nur ein bequemer Vierbeiner, der es gewohnt war, in kleinen Entfernungen zu denken. Die nächtlichen Gesänge der Götter waren mir fremd, so wie der heiße Wind der Savanne. Nie hatte ich unter dem Sternenzelt geschlafen und nie den heiligen Dschungel betreten. Afrika! Aber wo lag Afrika? Jedenfalls lag es nicht in mir, nicht in meinen Sehnsüchten, nicht in meinem Herzen. Es lag woanders, ganz weit weg von mir, so endgültig weit weg von mir.
Und trotzdem:
»Nehmt mich mit«, weinte ich schließlich leise in mich hinein. »Nehmt mich mit, o Brüder und Schwestern ...«
Als ich aufwachte, waren meine Augen voller Tränen. Also hatte ich im Traum tatsächlich geweint. Durch das Fenster oberhalb der Balkontür fiel gleißender Sonnenschein ins Zimmer und verursachte glitzernde Reflexionen auf den Werkzeugen, die überall verstreut herumlagen. Doch es war das Licht einer kalten Sonne. Ich wu ß te, das Gewitter in der letzten Nacht war die Abschlu ß arbeit des Herbstes gewesen. Schon bald, wahrscheinlich noch im Verlauf des Tages, würde es zu schneien anfangen. Man konnte den Schnee förmlich riechen. Der Winter hielt unmerklich Einzug.
Gustav schlief immer noch, und über sein Gesicht huschte gelegentlich ein einfältiges Lächeln. Vermutlich träumte er von Schokoladenpudding oder von der Jahresrückerstattung seiner privaten Krankenversicherung. Während ich mit schlaftrunkenem Kopf meinen merkwürdigen Traum zu deuten versuchte, blickte ich mich im Zimmer flüchtig um. Im Durcheinander der letzten Tage war mir gar nicht aufgefallen, wie weit Gustav und Archie die Renovierung schon vorangetrieben hatten. Denn auch das Schlafzimmer war inzwischen in einem angenehm hellen Blauton fertiggestrichen. Zu meiner Verärgerung bemerkte ich allerdings an einer Wand lebensgroße, fernöstlichen Federkielzeichnungen nachempfundene Abbildungen von Samurais, die ihrer farbigen Ausmalung harrten. Akzentuierungen dieses Kalibers waren sicherlich auf Archies Einflu ß zurückzuführen, wobei mir unwillkürlich die Frage in den Sinn kam, was ein Geschmacksbarbar wie Gustav mit derartiger Eleganz anfangen sollte. Aber wie auch immer, das Spukschlö ß chen würde also zu guter Letzt doch noch ein gemütliches Heim werden - wenn nicht, wenn nicht ... Na ja, da war noch dieses mordende Monster und die vielen vom Fleisch gefallenen Bewohner des Tempels und natürlich ich, dessen Pflicht es geworden war, Licht ins Dunkel zu bringen.
Komischerweise fühlte ich mich an diesem Morgen kein bi ß chen deprimiert, obgleich der Traum so traurig gewesen war. Doch die Sonne, die Verschnaufpause nach all den
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