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Felidae

Felidae

Titel: Felidae Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirincci
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grausam es im Land der Schmerzen zugegangen sei und was für Qualen Claudandus und seine Leidensgenossen unter ihrem Peiniger erdulden mu ß ten. Durch die Anstrengungen des Tages war Urgroßvater aber ganz schön schläfrig geworden und achtete nicht mehr so genau auf seine Worte. Er sagte, am Ende habe Claudandus das irrsinnige Ungeheuer zum Kampf aufgefordert und es während dieses Kampfes getötet. Da widersprach ich: ›Aber Vater Joker, du erzählst doch normalerweise immer, da ß der Allmächtige das Ungeheuer vernichtet habe und Claudandus in den Himmel gefahren sei.‹ Urgroßvater merkte nun plötzlich, dass er sich hatte gehen lassen und berichtigte sich daraufhin: ›Ja, ja, meine Kleine, danach ist er ja auch in den Himmel gefahren.‹ Dann schärfte er mir ein, niemandem diese Version der Legende zu verraten, weil es eine Sünde sei. Ich war damals ein Kind und habe mir darüber nicht weiter den Kopf zerbrochen. Aber jetzt weiß ich, da ß Urgroßvater an diesem Tag mehr preisgegeben hat, als ihm lieb war."
    Wie alle im Raum war auch ich von der spektakulären Wendung der Geschichte überwältigt. Doch im Gegensatz zu den anderen begriff ich die ganze Tragweite dieser Wendung. Für die anderen konnte es im Grunde gleichgültig sein, ob der Prophet letzten Endes ein Taxi in den Himmel genommen hatte oder Chefmanager von BP-Oil geworden war. Die Wege von Heiligen waren nun einmal unergründlich, und was für eine Rolle spielte es schon, ob Claudandus noch am Leben war oder nicht. Auf die Mordserie aber warf dieses unwichtig scheinende Detail ein vollkommen neues Licht. Denn Pepelines Aussage stimmte exakt mit der von Jesaja überein. Die unheimliche Stimme, die der Totenwächter durch die Schächte vernommen hatte, war demnach tatsächlich die des Propheten gewesen. Claudandus hatte also Preterius' Dauerfolter wahrhaftig überlebt, seinen Folterer sogar umgebracht.
    Und dann? Was war dann aus ihm geworden? Wo lebte er? Was tat er, wenn er nicht gerade irgendwelche Nacken bearbeitete? Und wenn Claudandus, der dank Jokers Publicity-Kampagne eine Blitzkarriere als Prophet gemacht hatte, nun wirklich der Mörder war, aus was für einem hirnrissigen Motiv, zum Teufel, tötete er seine Artgenossen? War er am Ende seiner Leidenszeit wahnsinnig geworden? Hatte er, als er seinen Tyrannen liquidierte - eine ziemlich abstruse Vorstellung -, Lust auf noch mehr Töten bekommen? Nein, dies war eine nachweislich falsche Annahme. Denn dann wäre es ihm doch völlig gleichgültig gewesen, wen er abmurkste. Der Mörder aber hatte sich ja eindeutig spezialisiert ...
    Das Getuschel und Gemurmel in der Menge schwoll abermals an. Ich mu ß te nun ein paar beruhigende Worte sagen, um es nicht so weit wie vorhin kommen zu lassen. Ich mu ß te den Zuhörern das Gefühl geben, da ß dieser verrückte Fall gar nicht verrückt, sondern ganz »normal«, das heißt durchschaubar, erklärbar war - ja, vielleicht mu ß te ich sogar lügen.
    »Liebe Freunde, ich sehe ein, da ß ihr nach Schwester Pepelines Erzählung etwas verwirrt seid. Im Grunde jedoch ist alles sehr einfach. Vater Joker hat damals die verdammenswerten Versuche im Labor heimlich mitverfolgt. Er kannte Claudandus, und er wu ß te aus der sakralen Aura um diese schillernde Märtyrerfigur für sich selbst Nutzen zu ziehen. Er gründete die Religion der Claudandisten, der ihr fast ausnahmslos angehört. Wie sich aber herausgestellt hat, ist die ganze Angelegenheit doch nicht so heilig gewesen. Wir haben eben erfahren, da ß Claudandus sogar überlebt hat. Das ist auch für mich eine brandneue Nachricht. Wie dem auch sei, bis auf ihn sind in jenen unglückseligen Tagen alle erwachsenen Tiere im Labor verendet und haben das Geheimnis mit ins Grab genommen. Der einzige, der also um die vollständige Wahrheit Bescheid weiß, ist Joker. Er ist auch der einzige, der das Aussehen von Claudandus kennt, der uns zu ihm führen könnte. Joker aber ist ...«
    »Verschwunden!« fiel Pascal mir ins Wort. Er tauchte wieder aus dem finsteren Hintergrund auf, baute sich ehrfurchtgebietend neben mir auf und blickte düster ins Publikum.
    Durch den resoluten Auftritt des Greises verlor Pepeline das bi ß chen Selbstvertrauen, das sie während ihrer Erzählung gewonnen hatte. Nun aber wich sie unmerklich in den Kreis der hinter ihr stehenden Artgenossen zurück und verschwand zwischen ihnen.
    Pascal ließ eine rhetorische Pause verstreichen, die die Spannung im Raum bis ins Unerträgliche

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