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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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man ihr angetan hat. Man hat sie vergewaltigt und ermordet, und ihre Leiche hat man in einen Bauschuttcontainer geworfen. Ich bin es ihr schuldig, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen.«
    Das ließ Cheryl innehalten. Sehr lange, wie sich herausstellte. Ehe sie wieder redete, blinzelte sie dreimal und sah mich mit herzzerreißendem, tränenreichem Blick an.
    »Ermordet?«
    »Ihr Gesicht wurde mit etwas Scharfkantigem zermalmt. Erstickt wurde sie dann mit ihrem eigenen …«
    »Nicht!«
    »Ich werde keinen Wirbel veranstalten. Das verspreche ich dir. Ich werde nicht stören. Aber ich muss es versuchen.«
    Weitere Köpfe drehten sich in unsere Richtung. Unsere geflüsterte Unterhaltung erzeugte mittlerweile genauso viel Aufsehen wie meine ungepflegte Erscheinung und strafte meine Versprechen Lügen, diskret zu sein.
    »Was willst du versuchen?«, fragte Cheryl matt wie jemand, der genau wusste, dass er den Kampf, in den er verwickelt war, verlieren würde.
    »Das Handauflegen.«
    Zuerst verstand sie es nicht. Dann dämmerte es ihr, und sie war entsetzt.
    »Glaubst du etwa, dass es jemand getan hat, der im Archiv arbeitet?«
    »Nein. Ich bin hundertprozentig sicher, dass es so war.«
    »Was willst du tun? Alle Leute abtasten, ob einer von ihnen ein Killer ist? Nicht beim Hochzeitsempfang meiner Mutter!«
    »Jeder schüttelt bei einer Hochzeit alle möglichen Hände. Niemand wird etwas bemerken.«
    Der Organist stimmte »Here Comes the Bride« an, und alle Köpfe fuhren herum.
    Cheryls Mutter war Cheryl sehr ähnlich, nur größer und stattlicher. Ihr dunkles Gesicht unter dem weißen Schleier war auf strenge Art schön, und sie ging wie eine Kaiserin. Es war so etwas wie eine Offenbarung: Sofern auf die Vererbungslehre Verlass war, würde Cheryl auf sehr würdevolle und elegante Art alt werden.
    Die Braut kam gemessenen Schrittes durch den Mittelgang, und mehrere ältere Frauen in den Bänken auf beiden Seiten machten reichlich Gebrauch von ihren Taschentüchern. Alice ließ ihr Taschentuch unbenutzt im Holster stecken. Sie hatte mich mittlerweile entdeckt und starrte mich mit dem Ausdruck an, mit dem Banquos Geist Macbeth erschienen sein musste.
    »Du sagtest, sie sei traurig gewesen«, rief ich Cheryl in Erinnerung. »Jetzt weißt du, weshalb. Willst du, dass das Schwein, das ihr das angetan hat, ungestraft davonkommt?«
    Sie gab keine Antwort.
    Cheryls Mum gab jetzt ihr Eheversprechen ab. Es klang, als hätte sie es selbst formuliert, denn es begann mit »Mein Körper soll auf ewig dir gehören« und endete mit einigen ziemlich eindeutigen Zusatzklauseln.
    Cheryl senkte den Blick. »Gut«, sagte sie mit elender, müder Stimme. Sie öffnete ihre Handtasche, ein Accessoire aus eierschalfarbenem Leder und gerade groß genug für ein Taschentuch und einen Tampon. Wie durch Zauberei holte sie eine große, rechteckige Karte mit vergoldetem Rand heraus. Sie reichte sie mir wortlos. Der Text darauf lautete: »Sie sind herzlich eingeladen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten Eileen Telemaques und Russell Clarkes am Sonntag, 27. November 2005«. Mit einem geflüsterten Danke an Cheryl steckte ich sie in die Tasche.
    Weitere Eheversprechen vom Bräutigam, der klang, als läse er sie von einem Spickzettel ab und als sähe er einige davon zum ersten Mal. Nun, wenn man das Kleingedruckte nicht las, dann durfte man sich danach nicht beschweren.
    »Wann beginnt der Empfang?«, fragte ich Cheryl flüsternd.
    »Um fünfzehn Uhr. Fix, mach keinen Aufstand, bitte! Tu nichts Schlimmes!«
    Ich stellte im Kopf einige schnelle Berechnungen an. Es gab Dinge, die ich vorher noch erledigen musste. Ich drückte Cheryls Hand und rutschte zum Ende der Kirchenbank. »Wir sehen uns später«, versprach ich.
    »Ich weiß nicht, ob ich mich darauf freuen soll«, sagte sie mit einem Ausdruck ahnungsvoller Bitterkeit.
    Es war schwierig, unbemerkt eine Hochzeitsfeier zu verlassen, wenn sie noch in vollem Gange war. Die Türsteher funkelten mich drohend an, als ich an ihnen vorbeispazierte und so tat, als wäre ich nur kurz hineingeschneit, um die Gasuhr abzulesen. Hinter mir schwollen die wuchtigen Orgelakkorde zu einem eindrucksvollen Hymnus an, der in der Luft hing wie eine Garnitur fliegender Möbelstücke.
    *
    Zuerst ging ich zum Bonnington, drang wieder in die versteckten Räume ein und tat, was ich tun musste. Die Stimmung im Kellerverlies war so bedrückend, dass es mir vorkam, als tränke ich die feuchte Luft anstatt zu atmen. Ich achtete

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