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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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mich zu ihr um und wappnete mich für einen Anschiss, aber was ich in ihrer Miene las, war alles andere als nackte Wut.
    »Tolle Darbietung«, stellte sie mit gepresster Stimme fest. »Spaß für die ganze Familie.«
    »Ich weiß nicht«, konterte ich. »Ich glaube, ich brauche ein paar Melodien, die man auch summen kann.«
    »Also, wie läuft das?«
    Ich entschied mich für Anstand und Freundlichkeit. Einstweilen. »Man hat einen Geist. Man bringt ihn mit einem Tropfen Blut zur Raserei. Das Rezept steht in der Ilias .« Sie antwortete nicht, daher versuchte ich es abermals. »Ich hatte eine solche Reaktion nicht erwartet. Der Schaden tut mir leid. Ich dachte, der Geist würde zu einem kurzen Flug über das Blut hinweg hereinkommen, aber die Reaktion, die ich hervorrief, war völlig …«
    Alice hörte nicht zu. Sie kam um das Pult gelaufen und hantierte mit ihrem heiligen Schlüsselring herum, um meinen Mantel zu befreien. Ich nahm ihn aus ihrer ausgestreckten Hand, bedankte mich mit einem kurzen Nicken. Ich dachte, sie wolle noch etwas sagen, aber Fehlanzeige. Sie holte nur ihren Mantel und ihre Handtasche aus dem Nebenfach. Ihre Hände hatten nicht aufgehört zu zittern, und als sie den unhandlichen Schlüsselring vom Gürtel hakte und versuchte, ihn in die Handtasche zu stecken, schaffte sie es nicht. Mit einem geflüsterten »Mist!« schob sie ihn stattdessen in ihre Manteltasche. Ich beließ es dabei.
    Draußen fiel leichter Nieselregen, aber der Wind in meinem Gesicht – eigentlich nur ein leichter Lufthauch – fühlte sich nach einem Tag in der stechenden Umwälzluft des Archivs gut an. Ich hätte einen Zug von der Euston Station nehmen und umsteigen oder mit einem Bus nach Norden durch Camden Town fahren können, aber ich entschied mich, zu Fuß zum King’s Cross zu gehen und dort die direkte Piccadilly-Linie zu nehmen. Ich war drei oder vier Blocks vom Archiv entfernt und ging mit gesenktem Kopf durch die Euston Road, als ich feststellte, dass Alice mit mir Schritt hielt. Sie fröstelte trotz ihres Mantels und hatte die Arme um sich geschlungen, während die Schlüssel in ihrer Tasche klimperten.
    Ich blieb stehen, drehte mich zu ihr um und wartete auf den nächsten Schritt. Sie starrte mich an, ihre Augen dunkel und gehetzt.
    »Ich bin nicht begeistert davon«, sagte sie. »Ich bin nicht begeistert davon, wohin sich das entwickelt.«
    Ich wartete. Ich glaubte zu wissen, was sie meinte, aber ich brauchte einen deutlicheren Hinweis.
    »Ich dachte …« Es war ein schweres Eingeständnis, und sie hatte Mühe, es herauszubekommen. »Ich dachte, das sei alles Quatsch. Ich dachte, Clitheroe lüge und alle anderen seien hysterisch. Denn falls da etwas gewesen wäre, hätte ich es sehen müssen – und ich sah gar nichts. Bis heute.«
    Ich war so vorsichtig wie möglich. Eine neutrale Feststellung, ohne eine Anspielung. »Sie sahen, wie Rich zu dem Kratzer im Gesicht kam.«
    »Es war nicht das erste Mal – Rich verletzt sich häufig. Er hat sich die Hand vor ein paar Monaten in einer Schublade eingeklemmt, und ein anderes Mal ist er gestolpert und die Treppe hinuntergefallen. Ich dachte, es war ein Unfall, den zuzugeben ihm unangenehm war.«
    »Aber Sie sahen …«
    Alice unterbrach mich, ihr Tonfall war spröde und gefährlich. »Ich sah ihn herumhüpfen wie einen Idioten, schreiend, mit der Schere herumfuchtelnd. Dann schaffte er es, sich im Gesicht zu schneiden. Es war nicht wie heute.«
    Sie fixierte mich, und ich sah in ihren Augen, was für eine heldenhafte Untertreibung es gewesen war, als sie sagte, sie sei unglücklich. Ich hatte sie am Vortag in eine Schublade gesteckt, und nun wusste ich, dass ich recht gehabt hatte. Alice war nicht mal eine Vestalin: Sie war das, was wir in unserem Gewerbe – häufig mit einem gewissen Grad von Verachtung – als UT oder einfach als Thomas bezeichnen: eine der absolut Unsensitiven, die von mir aus betrachtet am anderen Ende der menschlichen Gaußkurve standen. Sie konnte keine Geister sehen.
    Amüsant. Nach ihrem bisherigen Verhalten hätte es für mich Fest der Schadenfreude sein müssen, Alice so bang und bedrückt zu sehen. Aber faktisch empfand ich widerwilliges Mitgefühl mit ihr. Ich kannte das. Wir alle empfanden es irgendwann einmal. Wir alle mussten den Schutzschild des Skeptizismus fallen lassen und den Kopf vor dem Beil dessen neigen, was verdammt noch mal Realität war.
    »Ich weiß«, sagte ich und spürte, wie sich die Last der Abgespanntheit auf

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