Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
Erfahrung, die dieser Geist gemacht hat, seit er übergewechselt ist.«
Ich hatte jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. Ich öffnete das Testbesteck, nahm das Desinfektionsmittel heraus und schraubte den Deckel ab. Dann riss ich eine Folienpackung auf. Sie enthielt einen dünnen Stahlstreifen mit einer kurzen, scharfen Schneide an einem Ende. Dieses Ende benetzte ich mit Antiseptikum.
»Niemand weiß«, fuhr ich fort, »ob Geister aus Affekten bestehen oder nur zu ihnen hingezogen werden. Man ist sich jedoch allgemein darin einig, dass sie gewöhnlich an Orten erscheinen, wo sie zu Lebzeiten starke Gemütsbewegungen erlebt haben. Furcht. Liebe. Leid. Was immer. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wenn sie erst nach dem Tod starke Gefühle erlebt haben – weil sie an intensiven oder gewaltsamen Ereignissen beteiligt waren –, übt auch das eine heftige Wirkung auf sie aus und zieht sie an. Als dieser Geist Rich mit der Schere verletzte, muss diese Erfahrung unglaublich stark gewesen sein. Unglaublich klar. Angenehm, unangenehm oder – wahrscheinlich – beides. Richs Emotionen und die des Geistes verschmolzen miteinander und steigerten sich zu äußerster Intensität – wie in eine Nagelbombenexplosion zu geraten und gleichzeitig einen Orgasmus zu haben.«
Alice schüttelte wegen der unkeuschen Metapher missbilligend den Kopf, aber alle hatten es wohl verstanden.
»Dessen können wir uns jetzt bedienen«, schloss ich knapp. »Wenn Rich diese Verletzung noch einmal über sich ergehen lässt, könnte die Spukgestalt darauf reagieren. Sie müsste die Schwingungen des ursprünglichen Vorfalls spüren, die durch die Wiederholung erneut entstehen. Wenn wir Glück haben, wird sie sich nicht dagegen wehren können. Es könnte sie direkt hierherlocken, woraufhin ich den Job schon heute abschließen könnte. Aber ob sie kommt oder nicht, sie müsste in diese Richtung blicken oder sollte zu uns hingezogen werden, und ich spüre sie und kann dann berechnen, wo sie ist.«
Alle Blicke richteten sich auf Rich, der so nonchalant er konnte die Achseln zuckte.
»Gut«, sagte er. »Ich fürchte mich nicht vor einem kleinen Stich mit einer Nadel.«
Niemand störte die angespannt-erwartungsvolle Atmosphäre. Rich streckte die Hand aus, und ich stach ohne Vorwarnung einmal in die Kuppe seines Zeigefingers. Er verfügte über ausreichend Selbstkontrolle, um nicht zusammenzuzucken.
»Drücken Sie einen Blutstropfen heraus«, sagte ich. »Am besten auf den Tisch.«
»Ich kann nicht autorisieren, dass der Reinigungsdienst Blut aufwischt«, wandte Alice ein, aber Rich tat es schon. Den rechten Zeigefinger mit der linken Hand umfassend, verstärkte er den Griff, und eine Perle Blut quoll aus der winzigen Wunde. Sie erreichte die kritische Masse und fiel mit einem leisen, aber vernehmbaren Platschen auf den Tisch.
Ich gab Rich einen Wattetupfer aus dem Besteck, und er streckte die heile Hand aus, um ihn anzunehmen, aber ehe er das konnte, schlug mir eine unsichtbare Macht den Wattebausch und die scharfe Klinge aus den Fingern. Rich stieß einen Schrei aus, als seine Hand auch zur Seite flog. Alle anwesenden Köpfe, meiner eingeschlossen, fuhren herum – um in den leeren Raum zu starren.
Dann brach in dem Raum das Chaos aus.
Es war, als käme ein Wind auf – ein Wirbelwind –, den wir nicht spüren konnten, gegen den das Fleisch immun war, aber er trieb alle anderen Substanzen mit unerbittlicher Kraft vor sich her. Beide Türen des Raums knallten mit einem ohrenbetäubenden Krachen ins Schloss; Kataloge und Akten schwankten und polterten zu Boden, und Papiere wirbelten von jedem Schreibtisch und Regalbrett hoch und hüllten uns augenblicklich wie ein A4-Schneesturm ein. Gleichzeitig erbebte der Fußboden von einer Reihe wuchtiger Stöße. Die Vibrationen waren so stark, dass mein Kiefer zusammenklappte und ich mir auf die Zungenspitze biss. Cheryl fluchte, und Alice schrie. Rich gab einen dumpfen Laut von sich, wich vor dem Papierwirbel zurück und schlug wirkungslos in die Luft. Jon und der andere Mann, dessen Namen ich vergessen hatte, warfen sich beide im besten Überlebensstil auf den Fußboden und deckten die Arme über die Köpfe, als erwarteten sie einen Atomangriff.
Was mich betraf, so stand ich da und verfolgte, wie Landkarten, Poster und Feuerschutzanweisungen von den Wänden gerissen und in das herrschende Durcheinander gewirbelt wurden. Es war intuitiv und nicht arrogant oder trotzig und besonders tapfer. Es war
Weitere Kostenlose Bücher