Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
Teil davon: eine Hand, die nie etwas aufschrieb, sondern gut darin war, Dinge auszustreichen.
»Versuchen Sie es mit einem Priester«, empfahl ich erneut, weil ich mit meinem Latein am Ende war. »Oder mit jemandem, den Sie lieben, dem Sie vertrauen. Versuchen Sie es vielleicht mit Jeffrey. Reden Sie darüber! Laufen Sie nicht davor weg! Nach meiner Erfahrung kann man nicht davor weglaufen.«
Mir wurde an diesem Punkt plötzlich bewusst, dass Alice mich mit einem Ausdruck gepeinigter Verwirrtheit anstarrte.
»Jeffrey?«, sagte sie mit ungläubigem Unterton.
»Was?«
»›Versuchen Sie es mit Jeffrey‹? Haben Sie das gerade gesagt?«
Ich überlegte und nickte.
»Ich meinte«, versuchte ich es erneut, »Sie sollten mit jemandem reden, der …«
»Ich weiß, was Sie meinten. Ich will wissen, weshalb zum Teufel Sie das meinten. Denken Sie, Jeffrey und ich hätten etwas miteinander? Eine Affäre? Habe ich irgendetwas getan oder gesagt, das Sie zu diesem Schluss verleitet hat?«
»Sie haben dem Anschein nach ein gutes Arbeitsverhältnis«, versuchte ich, Zeit zu schinden.
»Quatsch.« Alice war jetzt ernstlich wütend. »Niemand hat ein gutes Arbeitsverhältnis mit Jeffrey. Das Verhältnis, das ich mit ihm habe, sieht so aus, dass ich die ganze Arbeit erledige und er sich hinter meinem Rock versteckt.«
»Gut.« Ich spreizte kapitulierend die Finger.
Sie lenkte nicht ein. »Nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Irgend so ein Widerling hat Ihnen erzählt, ich hätte mir diesen Job erschlafen, stimmt’s? Ich wusste, dass dieses Gerücht in Umlauf ist, aber ich wusste nicht, dass es schon Lichtgeschwindigkeit erreicht hat. Ein für alle Mal, ich bin leitende Archivarin, weil ich meine Aufgaben effizient erledige, und Rich ist es nicht, weil niemand außer ihm der Meinung ist, er käme damit zurecht.«
»Gut«, sagte ich erneut. Ich wollte das nicht mit ihr erörtern. Es ging mich nichts an.
Sie stand auf und funkelte mich wütend an. »Meiner Meinung nach sind Sie es, der ein Gespräch braucht, nicht ich«, sagte sie, »und ich meine nicht mit einem Priester oder Rabbi. Ich meine mit sich selbst. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, Castor. Ich empfehle Ihnen, damit anzufangen, indem Sie sich einmal kritisch ansehen, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen.«
Alice ergriff ihre Handtasche und ging. Sie stürmte nicht davon, aber sie machte deutlich, dass sie nicht wollte, dass man ihr folgte, und ich wollte ihr in diesem Moment ganz gewiss nicht folgen. Selbst gute Samariter überlegten es sich zweimal, wenn man sie hart genug zurückstieß, und ich hatte nicht vor, den gleichen Fehler zweimal an einem Abend zu machen – nämlich das Falsche zu tun, weil das Richtige nicht möglich war.
Als ich aufstand, fiel mir auf, dass sie etwas zurückgelassen hatte. Der schwere Schlüsselring war aus ihrer Tasche auf die Holzbank gerutscht, und sie hatte es in der fast nächtlichen Dunkelheit im Kircheninnern nicht bemerkt. Ich hob ihn auf und wog sein eindrucksvolles Gewicht in der Hand. Alice trug ihn wie einen Talisman. Sie würde wirklich sauer sein, wenn sie ihn vermisste – nicht zuletzt, weil ihre Kennkarte mittels einer Kellnerkette daran befestigt war und sie ohne ihn keine der Türen im Archiv öffnen konnte. Ich überlegte es mir anders und lief ihr nach.
Keine Spur im Eingang oder vor der Kirche. Inzwischen hatte sich das Nieseln in einen Dauerregen verwandelt. London roch bei Nässe wie ein inkontinenter Hund, aber auch sonst war es nicht so reizvoll. Ich gab auf und setzte den Weg zum King’s Cross fort. Ich wusste nicht einmal, welche Richtung sie eingeschlagen hatte, und sowieso war das kein Weltuntergang. Ich musste am nächsten Morgen nur dort sein, wenn sie öffneten, und ihr die Schlüssel zurückzugeben.
Als ich vor der King’s Cross Station die Treppe zur U-Bahn hinuntergehen wollte, kam ich an einer Telefonzelle vorbei, die wunderbarerweise sowohl intakt als auch frei war. Nun, wir lebten in einer Zeit der Zeichen und Wunder. Ich erinnerte mich an die Karte in meiner Tasche, blieb stehen und angelte sie heraus. Ich hatte gerade noch genug Münzen, um den Apparat zu füttern und ein Freizeichen zu hören.
7405 818. Ich kannte die Ziffernfolge grob und hatte eine Vorstellung, dass es ziemlich zentral war. In der Nähe des West Ends, wenn nicht sogar mittendrin. Ich wählte, und am anderen Ende klingelte es.
»Hallo?« Eine Männerstimme, leise und weich – leicht gelangweilt. Irgendwo im
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