Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
etwas, das ich unbewusst ausübte«, berichtete ich ihr. Es war die einfachste Möglichkeit, es auszudrücken, aber »unbewusst« war ein ziemlich schwaches Wort dafür.
»Unbewusst?«
»Ja. Ich meine, ohne es zu wollen. Ohne bewusste Entscheidung.« Ich blickte erneut zur Tür, dann wieder zu ihr. Sie sah mich konzentriert an. »Es ist einfach, Geister zu rufen. Einfacher, als sie wegzuschicken. Wenn man am richtigen Ort ist, und es sind viele von ihnen anwesend, reicht es bisweilen schon, wenn man anfängt, mit ihnen zu sprechen. Oder sie anzuschauen. Oder ihnen zu winken. Bei mir ist es Musik.«
»Was? Wie meinen Sie das?«
»Der Auslöser. Das, was ich benutze, um sie zu erreichen und dann festzuhalten. Ich kann Tin Whistle spielen.«
Sie lachte ungläubig.
»Nein!«
Ich schob eine Hand in den Mantel und holte die Tin Whistle heraus.
»Mein Gott«, sagte Alice in einer Art gequälten Staunens. »Die Zauberflöte!« Ich ließ zu, dass sie sie in die Hand nahm und daran entlang auf mein Gesicht schaute, als zielte sie mit einer Waffe auf mich. Das erinnerte mich an Ditko, wenn er tat, als würde er auf meine Füße schießen, um mich tanzen zu lassen – und daran, wie heiß die Flöte sich anfühlte, nachdem ich darauf gespielt hatte. Ich erschauerte von einem tiefen Unbehagen. Ich nahm ihr die Tin Whistle wieder ab und verstaute sie dort, wo sie hingehörte: griffbereit und nur für mich.
»Aber einen Geist zu exorzieren ist schwerer?«, fragte sie und sah mich wieder auffordernd an.
»Gewöhnlich sehr viel schwerer. Aber man kann an diesem Punkt keine Regeln aufstellen – jeder Geist ist anders.« Ich änderte den Kurs. »Sind Sie gut in Mathe?«
»Besser als in Navajos. Ich war immer eine der Besten – ich kann vierstellige Zahlen im Kopf malnehmen.«
»Also gut! David Hilbert. Preußischer Mathematiker im späten 19. Jahrhundert. Er glaubte, man könne aus allem ein mathematisches Modell machen – einem Stuhl, einem Satz, dem Wirbel der Sahne im Kaffee, auf welcher Seite die Eier hängen, wenn man seine Hose anzieht, was auch immer.«
»Gut.«
»Das ist eine Sicht der Dinge, die einleuchtet und funktioniert. Ich spiele eine Melodie, und die ist das Modell. Ich forme sozusagen den Geist. Ich … beschreibe ihn mit Schall. Aber dann – wenn ich es richtig gemacht habe – wirkt es in beiden Richtungen. Ich habe eine Art Verbindung geschaffen: Ich habe den Geist an den Klang gebunden.«
Ich hielt inne. Worte waren für das, was ich tat, nicht adäquat: Ich geriet mir immer selbst ins Gehege und stellte alles auf den Kopf, wenn ich versuchte, es zu erklären. Aber Alice konnte mir folgen.
»Es ist so etwas wie eine Voodoopuppe«, sagte sie bedächtig. »Ich meine, eine Voodoopuppe ist ein Modell, das genauso funktionieren soll. Man sorgt dafür, dass sie eine reale Person darstellt, indem man sie mit einem Zauber oder einem Fetisch wie einer Haarlocke oder sonst was versieht. Wenn man dann Nadeln in die Puppe sticht, empfindet die Person, die die Puppe darstellt, Schmerz.«
Ich war fasziniert. Das war eine viel bessere Analogie als die, auf die ich hinausgewollt hatte.
»Richtig«, stimmte ich zu. »Genau das tue ich. Ich sorge dafür, dass die Melodie den Geist darstellt. Ich verknüpfe sie. Ich mache sie zu Teilen eines Ganzen. Wenn ich aufhöre zu spielen …«
Ich ließ den Satz unvollendet. Abermals hatte ich den Punkt erreicht, an dem Sprache mir nicht weiterhalf. Was geschah mit den ungebundenen Geistern, die ich zusammengepackt und weggeschickt hatte? Wohin sandte ich sie? Erreichten sie die grüne Aue, oder hörten sie auf zu existieren? Ich wusste es nicht. Ich hatte nie eine Erklärung gefunden, die nicht völlig blödsinnig klang.
»Wenn Sie aufhören zu spielen …?«, hakte Alice nach.
»Dann hört der Geist auf, da zu sein. Er entfernt sich.«
»Wohin?«
»Wohin Musik geht, die nicht erklingt.«
Es war nicht, was sie erwartet hatte, und sie war noch trauriger als vorher. Ich hätte es wissen müssen.
Was konnte ich sagen? Meine eigene Definition für Leben reichte von der Wiege bis zur Bahre, und was danach kam, betrachtete ich als etwas anderes. Wenn man den Weg in den Himmel oder die Hölle fand, war alles prima: Wenn nicht, dann hatte man verdammt noch mal kein Recht mehr, weiter in der örtlichen Frittenbude oder in der Wäscheschublade seiner Ehefrau herumzuhängen. Mit anderen Worten, wenn es überhaupt so etwas wie eine natürliche Ordnung gab, dann war ich ein
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