Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
meine Schultern senkte. »Wenn man zum ersten Mal einen sieht – wenn man erkennt, dass alles wahr ist –, dann hat man eine ganze Menge harte Nüsse auf einmal zu knacken. Das ist kein Zuckerschlecken.«
Ich ließ die Worte in der Luft hängen. Ja, sie tat mir leid, aber ich hatte eigene Sorgen und Probleme, und sie gehörte dazu. Wollte ich ihr wirklich helfen, ihre Tränen zu trocknen und die Schultern zu straffen? Nein.
Aber einige Dinge ergaben sich aus dem Job.
»Ich gehe heim«, sagte ich kalt. »Ich habe zehn Minuten. Wenn Sie meine Version der Einführung in die Metaphysik hören wollen, dann können Sie das.«
Alice nickte, höchstwahrscheinlich genauso widerstrebend, wie ich das Angebot gemacht hatte.
»Wir sollten uns einen Platz irgendwo drinnen suchen«, sagte sie. »Anderenfalls glaube ich nicht, dass ich noch lange durchhalte.«
Der nächste »Platz irgendwo drinnen« war die Saint Pancras’s Church. Sie war offen und leer. Wir setzten uns in die hinterste Bankreihe. Es war fast genauso kalt wie draußen, aber wenigstens war es trocken.
»Einführung in die Metaphysik«, forderte Alice mich mit bebender Stimme auf.
»Richtig. Blake traf den Nagel auf den Kopf, nicht? ›Was jetzt bewiesen ist, existierte einst nur in der Phantasie.‹« Danke, Pen! »Wenn es Geister gibt, dann stellen sich eine ganze Masse Dinge, die man immer als Metaphern und Volksmärchen oder mittelalterliches Gerümpel, das im Kielwasser der Aufklärung zurückblieb, als nüchterne Wahrheit heraus. Man fängt an, über den Himmel und über die Hölle nachzudenken und fragt sich, was mit einem selbst geschieht, wenn man den Löffel abgibt. Bleibt man an irgendeinem trostlosen Ort hängen, nur weil man dort gelebt oder gearbeitet hat oder gestorben ist? Gibt es ein Leben nach diesem, nur ohne Sex, Drogen und Freizeit als Belohnung für gutes Benehmen?«
Alice nickte langsam und traurig.
»Nun, die Antwort ist: Niemand weiß das. Wenn man religiös ist, kann man mit einem Priester darüber sprechen. Oder mit einem Rabbi oder mit wem auch immer, je nachdem, welches Glaubens Kind man ist. Aber ich erzähle Ihnen, wie ich das sehe.«
Sie sah mich gespannt an. Jemand anders sah auch zu. Ich spürte schon wieder dieses Prickeln, diesen Druck auf der Haut, sanfter als eine Berührung. Ich blickte in die Schatten neben der Tür, glaubte, dort vielleicht eine Bewegung erkannt zu haben.
»Ich halte mich an Blake«, fuhr ich fort, »und ziehe eine Grenze. Zwischen dem, was bewiesen ist, und dem, was nur Gewichse ist – vorzeitiges Für-bare-Münze-Nehmen. Wenn ich sehe, wie meine Tante Emily durch einen Unfall beim Klavierstimmen enthauptet wird, und dann wandert um drei Uhr morgens ein kopfloser Körper, der aussieht wie Tante Em, mit dem Kopf unterm Arm durch meine Schlafzimmerwand, dann halte ich mich nicht an die nächstliegende Schlussfolgerung – nämlich dass alles so sein muss wie es aussieht. Kennen Sie die Navajos?«
»Die Indianer?« Ihr Gesichtsausdruck war leer, perplex.
»Ja. Sie betrachten Geister als eine Art böse Naturgewalt. Chindi nennen sie sie. Sie sind der Teil der Seele, der nicht zu etwas Besserem gelangen kann – all die hässlichen Affekte, denen man gewöhnlich nicht nachgibt. All der Egoismus, die Gier und die Dummheit. Sie sind nicht die Person, die man ist, sondern nur eine Art negatives Nachbild, das man zurücklässt, wenn man ins ewige Leben überwechselt.«
Alice wirkte nicht überzeugt. Höchstwahrscheinlich war es ein schlechtes Beispiel gewesen.
»Ich will damit nur sagen, dass man nicht automatisch davon ausgehen kann, dass Geister Leute sind, gefangen im ständigen Wiederholen der Dinge, die sie taten, als sie noch am Leben waren. Wir wissen nicht, was sie sind, und wir werden es nie herausfinden.«
Ihre Unsicherheit verfestigte sich zu etwas anderem.
»Deshalb finden Sie es in Ordnung, sie zu vernichten?«, fragte sie mit so leiser Stimme, dass es kaum zu hören war.
Ich zuckte die Achseln. »Tue ich das? Auch das weiß man nicht.«
»Sie schon.«
»Nein, ich auch nicht.«
»Das glaube ich nicht. Sie müssen wissen, was Sie tun.«
Das war etwas Neues. Ich hatte Alice eigentlich über diese sehr plötzliche existenzielle Krise hinweghelfen wollen – und stattdessen forderte sie mich auf, meine eigene Existenz zu rechtfertigen. Dass ich sie nicht einfach sich selbst überließ, musste etwas sehr Fundamentales und Beängstigendes über mich aussagen.
»Zuerst war Nekromantie
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