Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
waren. Keiner davon schien sich gelöst zu haben. Die mattglänzende Bison trug er am Körper, eine Hand immer in der Nähe des Abzugs. Abgesehen von den nervösen kleinen Sommerlüftchen war es beängstigend still hier oben auf knapp zweitausend Meter Höhe. Kein Vogel pfiff ein tröstliches Lied. Kein fernes, beruhigendes Kuhglockengeläut kündete von einer realen Welt irgendwo da drunten im Tal. Die Sonne donnerte herunter, das kupferne Schutzdach des Gipfelbuchkastens blitzte spiegelnd in alle Richtungen. Alle schwiegen, jeder hielt den Kopf auf die Brust gesenkt. Ein zu Tode erschrockener Haufen panisch verängstigter Menschen? Schicksalsergebene Gestalten in regungsloser Schockstarre? Nein, durchaus nicht. Nicht alle Opfer hatten ihren Widerstand aufgegeben.
Houdini zum Beispiel hatte einen Plan. Houdini hieß natürlich nicht wirklich so. Houdini war der naheliegende Spitzname für einen, der Mitglied im örtlichen Zauberzirkel war, der in Gesellschaften manches verschwinden und wieder auftauchen lassen konnte. Der Hobbyzauberer war der Mittelpunkt vieler Feten, Retter manch langweiliger Hochzeitsfeiern und Harmonizer verlogener Beerdigungen. Houdinis Spezialität waren Kartentricks und Münzkunststücke, doch bedauerlicherweise machte er seinem Namen nicht die volle und ganze Ehre, denn ein richtiger Entfesselungskünstler wie der legendäre Harry Houdini war er eben gerade nicht. Der Mann, der ganz hinten in der Wanderergruppe kauerte, besaß in der magischen Sparte
Lockpicking
lediglich Grundkenntnisse. Beim Lockpicking ging es um möglichst schnelles, aber auch geräuschloses und zerstörungsfreies Öffnen von Schlössern – natürlich ohne den herkömmlichen Schlüssel. Die Grundvoraussetzung war eine simple: Jedes Schloss, das verriegelt werden konnte, konnte auch wieder geöffnet werden. Lockpicking war eine richtiggehende Sportart, es gab deutsche und internationale Meisterschaften. Kaum jemand brauchte mehr als eine Minute dazu, einige schafften es in drei Sekunden. Aber hier oben auf dem Berggipfel? Houdini hatte das Handschellenschloss schon untersucht. Nach seiner ersten Einschätzung und zu seiner Überraschung war es keine übermäßig komplizierte Konstruktion, es war vermutlich ein einfaches Schnappschloss der Marke Fahrradkeller. Houdini benötigte einen Dietrich. In jedem Zauberladen gab es einen. In jedem Eisenwarenladen, in jedem noch so billigen Kaufhaus war einer auf Lager. Aber hier? Houdinis magisches Hirn arbeitete fieberhaft. Er brauchte einen Zahnstocher, eine Büroklammer oder eine Kugelschreibermine. Eine Nagelschere. Das zusammengeschweißte Ende eines Schnürsenkels. Ein angespitztes Schilfrohr. Das Mobiltelefon wäre ebenfalls hilfreich gewesen. Wenn er es geschafft hätte, die Rückabdeckung des Geräts mit einer Hand zu entfernen (und jeder Absolvent eines Zauberzirkels schaffte das!), dann käme er an eine kleine, spitz zulaufende Klappe, die die SIM -Karte fixierte. Wenn er die abgebrochen hätte – hätte, hätte! Das Mobilfunkgerät war ihm abgenommen worden, bevor er mit der Demontage beginnen konnte. Die Schutzstifte seiner Schnürsenkel waren zu breit, Schilf wuchs hier oben nicht. Doch dann kam ihm plötzlich eine zündende Idee. Und die wollte er realisieren.
»Ich muss mal!«, sagte er laut und mit fester Stimme. Er wusste freilich, dass ihm der Geiselnehmer auf keinen Fall erlauben würde, zu gehen. Dass er sich auch nicht darauf einlassen würde, ihn mit der Waffe zu einem stillen Örtchen zu begleiten. Er wusste, dass er diesen Wunsch barsch ablehnen würde. Aber der Gangster wäre ein paar Sekunden abgelenkt und würde den Griff in die Außentasche seiner Outdoorjacke nicht bemerken. Ablenkung oder Misdirection war alles beim Zaubern. In diesen Sekunden würde er sich ein brauchbares Requisit fischen. Er würde das Brillenetui in seiner Jackentasche öffnen und den Bügel von der Brille abbrechen. Er bereitete die Manipulation im Kopf vor. Vielleicht hatte er auch noch Zeit, die aufgesteckte Plastikschutzhülle, die das Ende des Bügels bedeckte, abzustreifen, die Hand herauszuziehen und den Behelfsdietrich darin zu verbergen.
»Ich muss wirklich dringend«, wiederholte Houdini, und wie erwartet bellte Lady Gaga:
»Halts Maul. Ich muss meinen Job hier machen, dann seid ihr frei. So lange müsst ihrs eben aushalten, ihr Weicheier. So was! Seht euch den an! Er muss mal!«
Der Gangster lachte, er beugte sich sogar ein wenig zurück beim Lachen, und mit
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