Fenster zum Tod
schlechter Verlierer.«
»Oh, Sie haben große Klasse bewiesen«, sagte Rochelle. »Sie standen erhobenen Hauptes da auf dem Podest, als man Ihnen die Silbermedaille umhängte. Aber wissen Sie was?«
»Was?«
»Ich hab’s gesehen. Ich hab’s Ihnen angesehen. Sie waren am Boden zerstört.«
Nicole rückte ihre Sonnenbrille zurecht. Wollte nicht, dass Rochelle ihre Augen sah.
»Na ja, es war ein sehr emotionsgeladener Moment«, sagte Nicole, die auch jetzt mit ihren Emotionen zu kämpfen hatte.
»Ich wette, wenn man das untersuchen würde … dann wette ich, es würde sich rausstellen, dass die Kampfrichter irgendwie bestochen wurden. Die russischen vielleicht. Oder die französischen.«
»Das kann ich nicht sagen. Da gab es nie irgendwelche Andeutungen.«
»Also ich glaube das jedenfalls«, sagte Rochelle mit Nachdruck. »Aber nach so vielen Jahren wäre es sicher schwierig, so eine Untersuchung einzuleiten.«
»Ich glaube, Sie haben recht. Geschehen ist geschehen«, bestätigte Nicole. »So was hat mir noch nie jemand gesagt.«
»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.«
»Nein, ist schon in Ordnung.«
»Ich habe immer mal wieder im Internet nach Ihnen gesucht, wollte wissen, was aus Ihnen geworden ist. Aber ich habe nie etwas gefunden. Es gibt schon seit Jahren nichts mehr über Sie.«
»Nein«, sagte Nicole. »Dieses Leben habe ich hinter mir gelassen. Ich habe alles … hinter mir gelassen.«
»Ich habe aber einiges darüber gefunden, was man sich alles von Ihnen erwartet hat, über den Druck, den man Ihnen gemacht hat.«
Nicole lächelte. Dass sich daran noch jemand erinnerte. »Mein Trainer war fuchsteufelswild. Und mein eigener Vater hat kein Wort mehr mit mir gesprochen. Er hat mich enterbt.« Nicole schwieg einen Augenblick. »Ich glaube, er wollte seinen Traum durch mich leben, und ich hab ihn platzen lassen.«
»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte Rochelle. »Das ist ja schrecklich.«
»Tja«, sagte Nicole.
»Warum ich Ihnen das alles erzähle … ich weiß, das klingt jetzt vielleicht blöd, aber Sie waren damals ein richtiges Vorbild für mich. Ich hatte ein Poster von Ihnen bei mir im Zimmer hängen.«
»Ein Poster von mir?«
»Ich habe es noch. Nicht mehr an der Wand. Aber ich hebe vieles auf. Irgendwo habe ich es noch, zusammen mit jeder Menge Zeitungsausschnitte über Sie. Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren. Ich würde nämlich nie, nie im Leben, über etwas reden, das der großartigen Annabel Kristoff irgendwie schaden könnte.«
Das war einmal ihr Name gewesen.
Nicole lächelte. Doch es war kein frohes Lächeln. »So hat mich schon lange niemand mehr genannt.« Sie schluckte, um den Kloß loszuwerden, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Dann drehte sie das Handy um und hielt es sich ans Ohr.
»– da? Sind Sie noch dran? Hallo?«, flüsterte Kyle.
»Ich bin da«, sagte Nicole.
»Erledigt.«
»Das Bild ist verschwunden?«
»Ja. Der Kopf ist nicht mehr zu sehen, das Fenster ist jetzt dunkel.«
»Gibt es noch frühere Versionen, auf die man zugreifen kann?«
»Nein, alles weg. Der Datensatz ist gelöscht.«
»Hervorragend.« Nicole lächelte Rochelle zu, die mit feuchten Augen zurücklächelte. »Gut, Kyle, ich glaube, wir sind fertig. Danke. Sie werden Rochelle im Keller finden, wenn Sie nach Hause kommen.«
»Geht’s ihr gut?«
»Bestens. Sagen Sie was, Rochelle.« Nicole hielt ihr das Handy hin.
»Hi, Schatz! Ich liebe dich! Tut mir wirklich leid wegen heute Morgen.«
»Ich dich auch, Kleines. Ich war echt ein Arschloch. Wir kriegen das wieder hin.«
Nicole zog das Handy wieder weg. »So, Kyle. Tschüs.«
Sie legte auf und ließ das Handy, Rochelles Handy, auf den Teppich fallen. Und dann blieb sie einfach sitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und blickte zu Boden.
Und überlegte.
»Was ist?«, fragte Rochelle. »Wollen Sie jetzt nicht gehen? Er hat doch getan, was Sie wollten, oder nicht?«
»Doch«, sagte Nicole. »Hat er.«
Du musst es trotzdem tun, sagte sie sich. Auch wenn sie ein Fan ist.
Nicole hob die Plastiktüte auf, die sie der Frau vorhin über den Kopf gezogen hatte.
»Was machen Sie damit?«, fragte Rochelle.
Es dauerte viel länger, als es ihr lieb war. Die Frau wehrte sich, heftiger als die meisten. Sie warf den Kopf vor und zurück, mit aller Kraft, bis ihr schließlich die Luft ausging. Lange genug, dass eine einzelne Träne Zeit hatte, auf die Außenseite der Tüte zu tropfen.
Als es endlich vorbei war,
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