Fenster zum Tod
hinunterstoßen?«
»Hat er’s dir erzählt?«
War es besser, ihn in dem Glauben zu lassen, ich hätte es von unserem Vater erfahren, oder sollte ich zugeben, dass ich es von Len Prentice hatte?
Ich wich aus. »Stimmt es?«
Thomas nickte. »Ja. Irgendwie schon.«
»Was ist denn passiert? Wann war das?«
»Vor einem Monat vielleicht.«
»Erzähl.«
»Er wollte über etwas reden, das schon vor langer Zeit passiert ist«, sagte Thomas und blickte wieder auf die Straßen Londons auf seinem Bildschirm.
»Was war das? Etwas, das ihm zugestoßen war?«
»Nein. Mir.«
»Dir? Was ist dir denn zugestoßen?«
»Ich darf nicht darüber reden. Dad hat’s mir verboten.« Er schwieg einen Augenblick. »Damals. Er sagte, ich darf es niemandem sagen, sonst wird er ganz schrecklich böse.«
»Um Himmels willen, Thomas! Wovon redest du? Wann war denn das?«
»Als ich dreizehn war.«
»Dad hat dir etwas getan, als du dreizehn warst, und dir gesagt, dass du es niemandem sagen darfst?«
Mein Bruder zögerte. »Nicht … nein, nicht ganz.«
»Thomas, hör zu. Was auch passiert ist, es ist lange her, und Dad ist nicht mehr da. Wenn es etwas gibt, das du mir sagen willst, dann kannst du das jetzt tun.«
»Es gibt nichts, was ich dir sagen will. Präsident Clinton sagt, ich darf nicht darüber reden. Sonst stehe ich wie ein Schwächling da. Und ich bin gerade auf dem Weg zum Trafalgar Square.«
»In Ordnung, Thomas. Aber können wir noch mal auf das zurückkommen, was vor einem Monat geschehen ist. Worum ging’s da?«
»Dad wollte, dass ich über das rede, was mir passiert ist, als ich dreizehn war.«
»Habt ihr in der Zwischenzeit mal darüber gesprochen?«
Thomas schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Aber auf einmal, so mir nichts, dir nichts, will Dad wieder darüber reden?« Ich wollte verstehen, wovon Thomas da eigentlich sprach. Was in aller Welt war vor zweiundzwanzig Jahren geschehen?
»Ja.«
»Warum?«
»Er hat gesagt, er hat vielleicht etwas getan, was nicht richtig war, und dass es ihm leidtut. Ich bin nach oben gegangen, und er hinter mir her, und er hat gesagt, er will mit mir darüber reden, aber ich wollte nicht. Ich hab mich jahrelang wirklich bemüht, nicht daran zu denken, und es ist mir sehr schwergefallen. Also bin ich stehen geblieben und hab mich umgedreht und gesagt, ich will nicht darüber reden und wenn er es nicht hören wollte, als ich dreizehn war, warum will er es dann jetzt hören, und ich hab die Hand ausgestreckt, damit er nicht mit mir hochkommt, und ich hab gar nicht fest geschubst, aber er ist gestolpert und ein bisschen gefallen.«
»Ein bisschen gefallen?«
Thomas nickte.
»Könntest du das bitte erklären?«
»Wir standen auf der vierten Stufe von unten, also ist er nicht tief gefallen. Er ist flach auf dem Rücken gelandet.«
»Mensch, Thomas. Und was hast du dann getan?«
»Ich hab gesagt, es tut mir leid, und ich hab ihm auf- und in seinen Sessel geholfen und ihm einen von seinen Eisbeuteln geholt. Ich war traurig, dass er hingefallen ist.«
»Ist er ins Krankenhaus gefahren? Oder zum Arzt?«
»Nein. Er hat ein paar extrastarke Schmerztabletten genommen.«
»Er muss schrecklich wütend auf dich gewesen sein.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat gesagt, es ist nicht so schlimm. Er hat gesagt, dass er mich versteht und dass ich ein Recht habe, sauer auf ihn zu sein, und dass er damit leben muss, wenn ich ihm nicht verzeihe. Und dann haben die Tabletten langsam gewirkt, und es ging ihm wieder besser, aber erst nach einer Woche hat es gar nicht mehr weh getan.«
Len muss bemerkt haben, dass mein Vater Schmerzen hatte, und ihn gefragt haben, was los sei. Vielleicht hat mein Vater es ihm erzählt, das Ganze aber heruntergespielt. Len hatte gesagt, Dad habe nach Entschuldigungen für Thomas gesucht, und das passte zu der Version, die mein Bruder mir erzählt hatte.
Aber was hatte meinem Vater leidgetan? Und warum wollte Thomas nicht darüber reden? Was konnte Dad getan haben, von dem er glaubte, Thomas würde es ihm vielleicht nicht verzeihen?
»Dr. Grigorin meint, es gibt da irgendwas, irgendeinen Vorfall, über den du nicht reden willst. Geht es darum? Das, weswegen Dad dich um Verzeihung gebeten hat?«
Thomas nickte, ohne zu überlegen.
»Du musst es mir erzählen«, beschwor ich ihn. »Ich muss es wissen.«
»Nein, musst du nicht. Es spielt keine Rolle. Er wird’s nicht wieder tun.«
»Dad? Dad wird’s nicht wieder tun?«
Thomas schüttelte den Kopf.
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