Fenster zum Tod
Ich wusste nicht, ob das ein Nein war, oder ob er mich nur loswerden wollte. »Dad hätte mir geglaubt, wenn du zum Fenster hochgesehen hättest«, sagte er. Doch als ich ihn bat, mir das zu erklären, drehte er sich weg.
Beim Abendessen bemerkte ich, dass Julie wenig begeistert in ihren Fischstäbchen herumstocherte, dem Pinot Grigio in ihrem Marmeladeglas dafür jedoch umso eifriger zusprach.
»Tut mir leid« sagte ich. »Als ich letztens einkaufen war, habe ich hauptsächlich Sachen mitgenommen, die nicht viel Arbeit machen.«
»Nein, schmeckt toll«, sagte Julie. »Du musst mir das Rezept geben.«
Thomas sagte: »Man nimmt einfach die Packung aus der Gefriertruhe, legt die Fischstäbchen auf ein Blech und schiebt es in den Ofen. Und dann tut man einen Tropfen Sauce Tartare aus dem Glas drauf. Stimmt doch, Ray, oder?«
»Ja, Thomas«, sagte ich. »Stimmt ziemlich genau.«
»Ich könnte das auch machen«, sagte er und nickte stolz. Anders als Julie hatte er seine Fischstäbchen hinuntergeschlungen, ebenso wie die Pommes, die auch aus der Tüte kamen.
»Schmeckt wirklich gut«, sagte Julie. Sie sah mich über den Tisch hinweg an und fügte hinzu: »Du bist irgendwie so still.«
»Mir geht nur ziemlich viel im Kopf rum.«
»Dass du die Polizei anrufen musst, zum Beispiel?«, fragte Thomas.
»Was?«
»Du hast gesagt, du rufst die Polizei in New York an.«
»Bin noch nicht dazugekommen«, sagte ich. »Ich mach’s gleich morgen.«
Sollte Thomas Zweifel an der Aufrichtigkeit meiner Worte haben, ließ er sie sich jedenfalls nicht anmerken. Er stand auf, nahm seinen Teller mit, spülte ihn kurz ab und sagte, er ginge jetzt in sein Zimmer.
»Ich räum den Tisch ab«, erbot sich Julie.
»Lass alles stehen«, sagte ich. »Komm mit.« Wir nahmen unsere Marmeladegläser voll Wein mit ins Wohnzimmer und setzten uns auf die Couch.
»Du hast nicht vor, die Polizei anzurufen, oder?«, fragte Julie. Ich hatte ihr bereits von meiner Fahrt nach New York, Thomas’ Anruf beim Vermieter und meinem Versprechen die Polizei in New York anzurufen, erzählt.
Ich schüttelte den Kopf.
Julie streifte die Schuhe ab und zog die Beine hoch auf die Couch. »Ich glaube, das versteh ich.«
»Du glaubst?«
»Ja. Ich meine, es wäre schwierig zu erklären und genauso schwierig, jemanden zu finden, der sich das anhört. Ein verschwommener weißer Kopf an einem Fenster. Was soll das denn sein? Ich mag Thomas sehr, wirklich, aber nach dem, was du mir über den Besuch vom FBI erzählt hast, ist es bestimmt nicht verkehrt, vorläufig kein Aufsehen zu erregen.« Sie trank den restlichen Wein in ihrem Glas aus. »Mehr?«
Sie hüpfte von der Couch, öffnete eine weitere Flasche und brachte sie mit. Dann schenkte sie uns beiden nach.
»Heute Nachmittag, als du mich angerufen hast, da klang deine Stimme irgendwie … Du hast dich, ich weiß nicht, ein bisschen zittrig angehört.«
Ich ließ den Wein einige Sekunden im Mund kreisen, bevor ich ihn hinunterschluckte, und antwortete. »War wahrscheinlich ein Moment des Selbstmitleids. Ich hatte gerade an meinen Vater gedacht, an Thomas. Das hat mich alles irgendwie fertiggemacht. Hör mal, ich will dich jetzt nicht auch noch mit diesem ganzen Scheiß belasten.«
»Schon in Ordnung.« Ein paar Sekunden sagte keiner von uns ein Wort, dann begann Julie: »Ich weiß noch, wie du in der Schule ständig gezeichnet hast. Manchmal hab ich dich gesehen, im Flur auf dem Boden, um dich herum an die hundert Kinder, die kreischten und rumalberten und ihre Spindtüren zuschlugen. Aber du hast einfach dagesessen, an deinen Spind gelehnt, und irgendwas in dein Heft gemalt. Ich hab immer rumgeguckt, wollte wissen, was um mich herum los war, aber du hast das überhaupt nicht wahrgenommen, du warst völlig in deiner eigenen Welt versunken.«
»Ja«, sagte ich. »Wahrscheinlich.«
»Ich glaube, du und Thomas, ihr seid euch ähnlicher, als du vielleicht denkst. Er lebt in seiner eigenen Welt, aber dich kann ich mir auch vorstellen, wie du in Burlington ganz allein in deinem Studio sitzt, nur mit deiner Spritzpistole, deinem Stift oder deinem CAD-Programm, und einem Bild, das du im Kopf hast, in die Freiheit verhilfst.« Sie schenkte sich nach. »Ich glaube, mir steigt da langsam was in den Kopf.«
Auch ich spürte die Wirkung des Weins, aber nicht genug, um meine Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. »Ich muss immer dran denken, wie Dad gestorben ist. Die Zündung ausgeschaltet, das Mähwerk –«
Julie
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