Fenster zum Tod
Oben?«
»Genau«, sagte ich, machte aber keine Anstalten, ihn zu holen. Ich hatte Bedenken, dass ihn Maries Besuch nach seinem Zusammenstoß mit Len aufregen könnte.
»Meinst du, er will vielleicht runterkommen und probieren?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich ihn im Moment gern in Ruhe lassen«, sagte ich. »Aber ich werde ihm natürlich sagen, dass wir das Essen Ihnen verdanken.«
»In der Tasche sind auch noch ein paar Brötchen«, sagte sie und klang auf einmal nicht mehr ganz so fröhlich. »Weißt du, ich bin auch deshalb gekommen, um mich bei ihm zu entschuldigen. Und bei dir. Dafür, wie Len sich letztens benommen hat.«
»Len und ich haben das schon geklärt«, sagte ich. »Schwamm drüber.«
»Ich habe euch im Keller gehört, und er hätte wirklich nicht so über deinen Bruder reden dürfen. Auch wenn Thomas ein bisschen anders ist, so etwas hätte Len nicht zu dir sagen dürfen.«
»Und Thomas hätte ihn nicht schlagen dürfen«, erwiderte ich. »So hat jeder sein Fett wegbekommen.«
»Len hat es nur gut gemeint«, fuhr Marie fort. »Es ist eigentlich meine Idee gewesen. Ich hatte vorgeschlagen, dass er Thomas mal loseist, mit ihm irgendwohin zum Mittagessen geht oder ihn zu uns nach Hause mitbringt. Eigentlich wollte er ja euch beide besuchen, aber du warst unterwegs.«
»Genau.«
»Wo warst du denn? In New York?«
»Ja, Marie.«
»Len versteht einfach nicht, warum Thomas so ist, wie er ist. Das musst du ihm nachsehen. Len denkt halt, man muss sich nur zusammenreißen, weißt du? Ich glaube nicht, dass er versteht, dass manche Menschen anders sind. Und dass sie nicht anders können. Er denkt, wenn er etwas kann, dann müssen alle anderen das auch können. Manchmal ist er auch mit mir so. Er sagt: ›Jetzt sei doch nicht immer so müde. Das ist doch nur eine Kopfsache. Fahr mit mir weg.‹ Aber es ist keine Kopfsache. Es ist eine Krankheit. Du kannst auf der Website der Mayo Clinic nachlesen. Darf ich mich setzen? Ich werde so schnell müde beim Stehen.«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich und zog einen der Küchenstühle unter dem Tisch heraus. Sie setzte sich und ließ die Arme zu beiden Seiten herabhängen.
»Es geht gleich wieder. Daheim in meiner Küche habe ich einen Stuhl gleich neben dem Herd, da kann ich mich jederzeit hinsetzen und dabei noch umrühren.«
»Ich stelle das in den Ofen, damit es warm bleibt«, sagte ich und schob die Form auf der mittleren Schiene in die Backröhre.
»Er versteht nicht, dass ich nicht alles tun kann, was er will«, sagte Marie. Dann ging ihr auf, dass ihre Bemerkung verschiedene Interpretationen offenließ, und sie wurde rot. »Ich meine, du weißt schon, Reisen und so. Er reist furchtbar gern, aber ich eben nicht. Und ich sage ihm auch immer, wenn du wegfahren willst, dann mach das und amüsier dich gut. Beim ersten Mal dachte ich noch, er tut es eh nicht, aber er hat jemanden gefunden, der mit ihm fuhr, und weg war er. Und es hat ihm so gefallen. Da konnte ich doch nicht nein sagen, als er wieder loswollte.«
»Tja«, sagte ich. Mehr fiel mir dazu nicht ein.
»Und ich glaube auch keine Sekunde, was Len über Thomas gesagt hat.«
»Und was wäre das, Marie?«
»Er kann uns doch nicht hören, oder?«, fragte sie besorgt.
»Nein.«
»Len hat gesagt, dass die Polizei Thomas ganz genau unter die Lupe nehmen würde, sollte es mal eine Untersuchung geben, wie dein Vater umgekommen ist.«
»Warum das denn, Marie?«
»Len sagt, dass es zwar ziemlich riskant war, was dein Vater da beim Rasenmähen auf dem Steilstück machte. Aber er wusste genau, was er tat. Wenn aber die Polizei mal auf die Idee kommen sollte, dass vielleicht jemand bei ihm draußen war, der ihn mit diesem Traktor umgestoßen hat, dann bräuchten sie nicht lange zu suchen. Ich wiederhole nur, was Len sagt. Ich dachte, vielleicht hat er zu dir dasselbe gesagt, bevor ich die Kellertür aufmachte, und ich wollte dir sagen, dass es mir sehr leidtäte, wenn er das getan hat. Ich glaube nämlich nicht, dass Thomas so was tun würde. Im Grunde ist er ein guter Junge. Wie hoch du hast den Ofen eingestellt? Lass ihn nicht zu heiß werden, maximal hundert Grad. Und zehn Minuten reichen.«
Ich folgte ihren Anweisungen.
Ich hatte gedacht, ich hätte das endlich abgehakt, die Sache mit dem abgestellten Motor und dem hochgeklappten Mähwerk. Julies Interpretation hatte sehr plausibel geklungen. Doch jetzt kamen mir wieder Zweifel, ob beim Tod meines Vaters vielleicht doch
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