Fenster zum Tod
Er verstummte kurz. »Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.«
Morris atmete durch die Nase. Ein und aus, ein und aus, seine Nüstern blähten sich mit jedem erregten Atemzug. Dann, so unvermittelt, wie er sie gezogen hatte, senkte er seine Waffe und sah zu Boden. Ein Eingeständnis der Niederlage. Er steckte die Pistole zurück in seine Jacke.
Lewis ließ langsam den Arm sinken, hielt seine Waffe aber weiterhin fest umklammert.
Es wäre zwar durchaus in meinem Interesse gewesen, wenn Morris Lewis erschossen hätte, trotzdem atmete ich wie alle anderen auf. Ich warf einen Blick auf Thomas. Er musste mit den Nerven völlig am Ende sein. Doch er hatte die Augen geschlossen. Wahrscheinlich schon die ganze Zeit.
»Thomas«, sagte ich. »Du kannst die Augen wieder aufmachen.«
Er tat es, sah kurz zu Nicoles Leiche auf dem Boden, dann zu mir. Er sagte nichts, aber seine Augen flehten mich an, uns hier rauszubringen. Meine hatten darauf keine beruhigende Antwort.
Morris stand kopfschüttelnd da. Lewis und Howard beobachteten ihn aufmerksam. Was würde er als Nächstes tun?
Morris wandte sich um, drängte sich an Howard vorbei, riss den Vorhang zur Seite und marschierte zum Ausgang.
»Morris?«, sagte Howard.
»Was macht er da, verdammt noch mal?«, fragte Lewis.
Howard ging Morris hinterher. Ich merkte, dass Lewis das auch vorhatte. Er sah Thomas und mich kurz an. Offenbar machte er sich keine Sorgen, wir könnten ihm davonlaufen. Dann folgte er den beiden Männern.
Ich hörte wie die Tür geöffnet, aber sofort wieder geschlossen wurde. Wahrscheinlich hatte Morris gehen wollen, einer der beiden anderen hatte jedoch die Tür zugeschlagen, um ihn daran zu hindern. Dann fingen sie an zu streiten, sie redeten alle gleichzeitig. Ich konnte sie nicht verstehen, und im Moment war mir das auch egal.
Wenn Thomas und ich überhaupt eine Chance hatten, dann jetzt.
Ich beugte mich vor, um mit beiden Füßen festen Halt auf dem Holzboden zu bekommen. Meine Beine hatte Lewis nicht an den Stuhl gefesselt, ich konnte mich also ein wenig bewegen.
»Was machst du?«, fragte Thomas.
»Psst!«
So gut es mit dem Stuhl am Leib ging, watschelte ich hinter Thomas. Vorsichtig, damit mein Stuhl nicht über den Boden kratzte, setzte ich ihn ab. Jetzt saßen wir Rücken an Rücken. Ich hätte mir nicht so viel Mühe machen müssen, denn bei der hitzigen Debatte im vorderen Teil des Ladens war es unwahrscheinlich, dass sie irgendwas von hinten hörten. Und da auch der Vorhang wieder zugefallen war, konnte man uns von vorne auch nicht sehen.
Ich setzte mich so nahe an Thomas heran, dass ich mit den Fingern das Klebeband erreichte, mit dem seine Handgelenke an den Stuhl gefesselt waren.
»Wir kommen hier raus«, sagte ich. Mit den Fingern beider Hände bemühte ich mich, das Klebeband zu fassen zu bekommen, um es abzureißen. Es waren mehrere Schichten, und die nur mit den Fingerspitzen zu lösen war eine mühselige Arbeit. Wenn ich sie nur an einer winzigen Stelle einreißen könnte …
»Mach schnell«, flüsterte Thomas.
»Geduld.«
»Ray, du hättest mir sagen müssen, dass du mich für einen Gangster arbeiten lässt.«
»War doch alles Schwachsinn«, flüsterte ich und mühte mich weiter mit dem Band ab. »Das hab ich erfunden, um Zeit zu schinden.«
»Oh«, sagte er. »Das war aber sehr schlau.«
»– willen, nein, du kannst doch nicht –«, rief Morris. Die ersten verständlichen Worte, die ich von draußen hörte, seit die drei das Hinterzimmer verlassen hatten.
Inzwischen war es mir tatsächlich gelungen, das Band ein wenig einzureißen. Langsam wurde der Riss größer. »Es fühlt sich lockerer an«, sagte Thomas.
»Wenn du die Hände frei hast, bindest du mich los, und wir hauen ab.«
»Gut«, sagte er. »Ray, ich weiß gar nicht, wo wir sind.«
»Sobald wir auf der Straße sind, weißt du’s. Da bin ich mir sicher.«
Ich vergrößerte den Riss um einen weiteren Zentimeter, spürte, dass das Band jeden Moment durch sein musste.
»Geschafft«, sagte Thomas. »Meine Hände bekomm ich frei, aber da ist noch so viel Klebeband oben rum.«
»Beeil dich.«
Ich hörte, wie Thomas an dem Band riss. Ich drehte mich mitsamt dem Stuhl um und sah ihm zu, wie er seine Hände heftig gegeneinander bewegte, um sie aus den Bandresten zu befreien. Dann machte er sich an die Fessel um seine Taille.
»Gleich hast du’s«, sagte ich.
Die Männer stritten nicht mehr ganz so laut, redeten aber noch immer.
»Schneller«,
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