Fenster zum Tod
stehen, an der Ecke St. Mark’s Place und First Avenue, war wie in seinem Computerbildschirm drinnen zu sein, nur echter. Es war überwältigend.
Er dachte an all die anderen Städte, in denen er schon gewesen war. Auf der ganzen Welt. Tokio. Paris. London. Bombay. San Francisco. Rio de Janeiro. Sydney. Auckland. Kapstadt.
Und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, wie es wäre, an diesen Orten zu sein, wirklich körperlich dort zu sein. Sie zu riechen. Zu hören. Ihre Straßen unter den Füßen zu spüren.
Verwunderung erfüllte ihn.
Ließ ihn beinahe vergessen, was er tun musste. Aber nur beinahe.
»Ray«, sagte er. »Ich muss Ray helfen.«
Aber wie?
Er sah keine Polizeiwagen. Und auch keine Telefonzellen. Und selbst wenn er eine gesehen hätte: Er hatte kein Geld bei sich. Keine Münzen, kein Papiergeld, keine Brieftasche voller Kreditkarten. Thomas besaß nicht einmal eine Kreditkarte. Hätte sie auch nicht zu benutzen gewusst.
»Taxi!«
Thomas drehte sich um. Er erblickte einen Mann, der einen Arm gehoben hatte, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen, der eines dieser gelben Autos fuhr. Der Mann sprang hinein, und das gelbe Auto fuhr los.
Thomas hatte auch kein Handy. Damit hätte er wahrscheinlich die Polizei rufen können. Ray hatte sein Handy immer dabei, und ihr Vater hatte eines gehabt, und Julie hatte eines. Er konnte also davon ausgehen, dass die meisten Leute eines hatten. Die meisten Leute, die hier unterwegs waren, hatten vermutlich ein Handy bei sich.
Von Süden staksten zwei junge Mädchen auf ihren hohen Absätzen daher, Arm in Arm, als müssten sie einander stützen.
»Entschuldigung«, sagte Thomas und stellte sich ihnen mitten in den Weg. »Ich wette, ihr habt Handys. Könnte ich mir eines leihen, um den Notruf zu wählen?«
Abrupt blieben die Mädchen stehen, blinzelten. Thomas hatte den Eindruck, die beiden hätten vor etwas Angst. Schnell lösten sich die beiden voneinander und gingen links und rechts an ihm vorbei. »Spinner«, murmelte die eine.
Hatten wahrscheinlich doch keine Handys dabei. Also versuchte Thomas es bei zwei anderen Leuten. Der erste war ein alter Mann in zerlumpten Klamotten, der sich eingehend für den Inhalt eines Mülleimers interessierte. Jedenfalls mehr für den halbvollen Pappbecher, den er gefunden hatte, als für Thomas’ Frage. Die zweite Person war eine Frau mittleren Alters, die ihre Tasche fester an den Busen drückte und ihren Schritt beschleunigte, als Thomas ihr Handy verlangte.
Vielleicht hatten sie in New York keine Handys. Thomas hätte jetzt gerne Julie an seiner Seite gehabt. Er mochte Julie. Julie wüsste, was zu tun war.
Doch wie sollte er sich mit ihr in Verbindung setzen? Selbst wenn er ein Telefon gehabt hätte, er wusste ihre Nummer nicht. Was konnte er also –
Moment mal.
Julie hatte eine Schwester, die in New York wohnte. Die hatte einen Laden und verkaufte Cupcakes. Wie hieß sie noch mal? Was hatte Julie gesagt? Candace? Genau! Und ihr Laden hieß Candy’s Cupcakes. Julie hatte gesagt, Candace wohne über dem Laden.
In der 8. Straße. West.
Thomas schloss die Augen. Er konnte ihn sehen. Das Schaufenster voller Kuchen. Die rot-weiß gestreifte Markise. Die zwei schmiedeeisernen Tische mit Stühlen, die vor dem Laden auf dem Gehsteig standen.
Candace wüsste bestimmt, wie er Julie erreichen konnte. Er musste zu Candace.
Jetzt musst er nur irgendwie in die 8. Straße kommen. West.
Thomas blickte die Straße entlang. Da sah er noch eines dieser gelben Autos kommen. Er trat also auf die Straße, mitten auf die Fahrbahn, streckte beide Hände in die Luft und rief: »Taxi!«
Der Fahrer machte eine Vollbremsung, und der Wagen kam quietschend zum Stehen.
»Komplett verrückt geworden, oder was?«, schrie der Taxifahrer.
Thomas ging zu ihm. »Sir, Sie müssen mich zu Candy’s Cupcake bringen. 8. Straße, West, New York City.«
»Und wo zum Teufel denken Sie, dass wir jetzt sind?«
»Wir sind St. Mark’s Place Ecke First Avenue«, sagte Thomas und dachte, dass ein Mann, der ein Taxi fuhr, so etwas wissen sollte.
»Steigen Sie ein«, sagte der Taxifahrer.
Thomas rannte um den Wagen herum, um auf der Beifahrerseite einzusteigen.
»Hinten!«, rief der Fahrer und schüttelte den Kopf. Thomas setzte sich auf den Rücksitz. Und obwohl es schon lange her war, seit er zuletzt einen Film gesehen hatte, sagte er, was man seiner Meinung nach in so einer Situation sagte: »Geben Sie Gas.«
Der Fahrer gab Gas.
»Ich muss
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