Fenster zum Tod
flüsterte ich.
»Bin gleich so weit«, sagte Thomas. Im nächsten Moment stand er auf. »Jetzt du.«
Klar und deutlich hörte ich, wie Lewis sagte: »Ich seh mal nach den beiden.«
»Lauf«, flüsterte ich.
»Dauert nur eine Sekunde«, sagte mein Bruder und fing an, an dem Band um meine Handgelenke zu zupfen.
Lewis’ Schritte kamen näher.
»Keine Zeit!«, flüsterte ich eindringlich. »Los! Renn! Hol Hilfe!«
Ich spürte Thomas’ Panik. Er wollte nicht von mir weg.
»Aber –«
»Hau ab, verdammt noch mal!«
Das half. Durch die Seitentür rannte er hinaus auf den kurzen Flur, über den wir von der Straße hereingekommen waren. Er stieß die Tür auf und war verschwunden.
»Ja, ja«, sagte Lewis. Er war anscheinend kurz stehen geblieben. »Keine Sorge.«
Eine Sekunde, bevor Lewis hereinkam, warf ich einen Blick auf Nicole. Warum war da so wenig Blut auf dem Boden?
Fünfundsechzig
T homas stürzte hinaus. Vor ihm stand der weiße Kastenwagen. Er blockierte die schmale Gasse vollständig. Thomas blinzelte ein paarmal, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann blickte er links und rechts, entdeckte die Straße und rannte los.
An der Ecke bog er rechts ab. Es war eine reine Instinkthandlung. Er lief an einem Fahrradgeschäft vorbei, einem Schneider, anderen Läden, ohne darauf zu achten. Er konnte nur an eines denken: Er musste hier weg. Er musste hier weg, so schnell er konnte, und Hilfe holen.
Normalerweise hätte er sofort gewusst, wo er sich befand, doch im Augenblick arbeiteten zwei Faktoren gegen ihn. Erstens hatte er panische Angst. Zweitens war es Nacht. Auf Whirl360 gab es nur Tagaufnahmen.
Die ersten beiden Straßenzüge rannte er in vollem Tempo, doch das beizubehalten war unmöglich für jemanden, der seit Jahren nur in seinem Zimmer am Computer saß und körperliche Bewegung im Freien mied.
Und so wechselte Thomas von Galopp zu flottem Marsch. Mehrmals bog er ab. Bei dieser Querstraße links. Bei der nächsten rechts.
Nur weg, nur weg, nur weg.
Dann musste er haltmachen. Er beugte sich vor, legte die Hände auf die Knie und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. Er keuchte. Seine Brust schmerzte.
Er richtete sich auf, ging ein paarmal langsam im Kreis, und als er wieder genügend Luft bekam, blickte er sich um. Es war zwar dunkel, doch es gab genügend Straßenlampen, um Dinge erkennen zu können. Schaufenster. Straßenschilder.
An einer Ecke Stromboli Pizza. An der Mauer die Schrift: »Dieser Augenblick ist kostbarer, als du denkst.« Daneben gab es ein vegetarisches Restaurant. Auf der anderen Straßenseite ein Schuhgeschäft mit den verschiedensten Turnschuhen im Schaufenster.
Ohne auf das Straßenschild zu sehen, sagte Thomas: »St. Mark’s Place Ecke First Avenue.«
Dann gestattete er sich einen Blick auf das Schild. Er hatte recht.
»Ich weiß, wo ich bin«, sagte er laut. »Ich weiß, wo das hier ist.«
Ein kleiner Mann mit schulterlangem Haar, der gerade vorüberschlenderte, sagte: »Schön für dich.«
Thomas war zu fasziniert von seiner Umgebung, um von dem Mann Notiz zu nehmen.
»Das ist New York«, sagte er. »Das ist Manhattan. Ich weiß, wo ich bin.«
Er ging auf die Pizzeria zu, stellte sich direkt vor die Fensterscheibe und berührte sie mit den Fingerspitzen.
Er konnte sie spüren.
Thomas spürte das Glas unter seinen Fingern.
In diesem Fenster sah er etwas, das er in keinem der Fenster der Städte, die er schon erkundet hatte, je gesehen hatte.
Er sah sein Spiegelbild.
Auf Whirl360 hatte er das nie erlebt. Er konnte die Wohnhäuser, die Läden, die Schilder, die Bänke, die Briefkästen sehen. Er konnte sogar heranzoomen, um sie zu vergrößern und genauer zu betrachten. Doch er konnte sich nur vorstellen, wie diese Dinge sich anfühlten.
Er roch etwas.
Gebackenes Brot. Teig. Pizzateig. Das Restaurant war geschlossen, es war schon sehr spät. Aber die Düfte waren noch da.
Es roch so gut. So appetitlich. Thomas merkte plötzlich, wie lange er schon nichts mehr gegessen hatte. Vor dem Bildschirm hatte er nie etwas von dem riechen können, was er gerade ansah.
Hinter ihm rumpelte ein Lastwagen vorbei. Thomas wirbelte herum, sah ihm nach, wie er die First Avenue entlangfuhr. Hier bewegten sich die Lastwagen. Machten Lärm. Die Menschen gingen. Und ihre Gesichter waren zu erkennen.
Seine Whirl360-Welt war geräuschlos. Geruchlos. Nichts, das man berühren konnte.
Voller Staunen betrachtete Thomas alles um sich herum. Hier zu
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