Fenster zum Tod
dass ein katastrophales Ereignis bevorsteht. Kannst du dir vorstellen, wie viele Alarmglocken da losschrillen?«
»Schließ ihn wieder an, Ray!« Schon war er aufgesprungen, hatte sich hingekniet und tastete hektisch nach dem Kabel der Steckerleiste.
Ich packte ihn bei der Schulter und zerrte ihn weg. »Nein! Das war’s, Thomas! Ich hab den Kanal voll! Es reicht!«
Doch Thomas krabbelte wieder los wie ein Krebs, schaffte es unter den Tisch. Ich packte ihn an den Beinen und zog ihn hervor.
»Ich hasse dich!«, schrie er. Tränen liefen ihm über die zornroten Wangen.
»Du hörst jetzt damit auf!«, sagte ich. »Ein für alle Mal. Du verlässt dieses Zimmer und gehst an die frische Luft! Du fängst jetzt an, wie ein normaler Mensch zu leben!«
»Lass mich in Ruh, lass mich in Ruh, lass mich in Ruh«, wimmerte er. Ich schleifte ihn in die Mitte des Zimmers. Dort lagen wir schließlich beide, alle viere von uns gestreckt. Es war nicht schwierig gewesen, ihn über den nackten Holzboden zu ziehen, doch dabei waren auch mehrere Landkarten und Ausdrucke mitgeschleift worden. Er holte eines der zerknitterten Blätter unter seinem Bein hervor, faltete es auseinander und bemühte sich, es auf seinem Schenkel glatt zu streifen.
»Schau, was du gemacht hast!«, sagte er.
Ich riss ihm die Karte aus der Hand, zerknüllte sie und schleuderte die Papierkugel quer durchs Zimmer.
»Nein!«, schrie mein Bruder.
Ich wusste, dass ich das nicht hätte tun dürfen. Thomas anschreien, den Computerstecker ziehen, und, was vielleicht am allerschlimmsten war, mit einer seiner kostbaren Karten wie mit einem benutzten Papierhandtuch umgehen. Ich hatte die Kontrolle verloren, über die Situation und über mich. Gut, ich hatte meinen Vater verloren, war hier hergekommen, um mir klarzuwerden, was mit dem Haus und Thomas geschehen sollte, und auf einmal standen auch noch zwei Agenten der Bundespolizei auf der Matte – das war mir einfach zu viel geworden. Aber derart auf Thomas loszugehen, dafür gab es keine Entschuldigung.
Vielleicht hätte ich darauf vorbereitet sein müssen, dass es Thomas genauso ging.
Wie aus der Kanone geschossen stürzte er sich mit ausgestreckten Armen auf mich und packte mich an der Kehle. Ich fiel hintenüber, und er landete auf mir. Unsere Beine waren ineinander verschlungen, seine Hände umklammerten immer noch meinen Hals.
»Du bist genau wie Dad!«, schrie er mit weit aufgerissenen Augen und irrem Blick. Ich bekam keine Luft mehr und packte seine Handgelenke, konnte seinen Griff aber nicht lösen.
»Thomas! Lass … los!« Ich konnte nur noch krächzen.
Da erwischte ich mit der rechten Hand sein linkes Ohr und riss mit aller Kraft daran.
Thomas heulte auf und ließ mich los. Mich zur Seite rollend schüttelte ich ihn ab. Der Schmerz am Ohr hatte ihn anscheinend in eine Art Schockzustand versetzt. Er sah sich das Chaos um uns herum an, dann mich, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, nein, nein«, sagte er, und statt seine Wut weiter an mir auszulassen, fing er an, sich selbst zu schlagen. Abwechselnd drosch er einmal mit dem linken, einmal mit dem rechten Handballen auf seine Stirn ein. Erbarmungslos.
»Thomas!«, sagte ich. »Hör auf!«
Ich versuchte, seine Arme festzuhalten, doch sie gingen auf und ab wie Kolben. Er trommelte so heftig auf seinen Schädel ein, dass es klang, als ob Holz gegen Holz schlüge. Ich warf mich auf ihn und drückte ihn zu Boden, damit er aufhörte.
Unverständliche Laute des Unmuts drangen aus seiner Kehle.
»Ist ja gut!«, sagte ich. »Thomas, hör auf.« In der Hoffnung, ihn zur Ruhe bringen zu können, indem ich seine Bewegungsfreiheit einschränkte, drückte ich ihn mit meinem ganzen Gewicht zu Boden.
»Ist ja gut«, wiederholte ich. »Es tut mir leid.«
Von einer Sekunde auf die andere hörte er auf, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Seine Stirn war rot und begann sich allmählich blau zu verfärben. Mit den Hieben, die er sich gerade selbst versetzt hatte, und den roten, geschwollenen Augen sah er aus, als hätte er gerade bei einer Kneipenschlägerei den Kürzeren gezogen.
Er weinte.
Ich spürte, wie ich die Fassung verlor. Meine Kehle wurde eng, mein Atem ging schneller.
Jetzt weinte auch ich.
»Thomas, es tut mir leid«, sagte ich. »Es tut mir so leid. Ich geh jetzt von dir runter, ja?«
»Ja«, sagte er.
»Ich steh jetzt auf. Versprich mir, dass du dich nicht mehr schlägst, ja.«
»Versprochen.«
»Ja, so ist’s gut. Alles ist gut.«
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