Fenster zum Tod
Eigentlich sollte Thomas also keine Gelegenheit haben, irgendeinen Unfug anzustellen, aber man konnte nie wissen.
Kurz darauf klingelte ich an der Tür der eingeschossigen Ranch am Ridgeway Drive. Es war Marie Prentice, die mir öffnete.
»Ray, das ist ja eine Überraschung!«, sagte sie und hielt mir die Fliegengittertür auf. »Len! Ray ist da! Hast du deinen Bruder mitgebracht, Ray? Ist er noch im Wagen?«
»Ich bin allein da, Marie«, sagte ich und betrat das Haus.
»Ach, das ist aber schade!«, sagte sie. Trotz der Kurzatmigkeit in ihrer Stimme, strotzte jede einzelne Silbe dessen, was sie sagte, vor Begeisterung. »Ich hätte mich so gefreut, ihn zu sehen.«
Marie sammelte Miniaturen von Waldlebewesen, und diese bevölkerten so gut wie jede freie Fläche im Haus. Auf dem zierlichen Tischchen in der Diele wimmelte es von Rehen, Waschbären, Eichhörnchen und Streifenhörnchen, und keine zwei davon waren im gleichen Maßstab. Wenigstens hoffte ich das, denn sonst liefen irgendwo Streifenhörnchen frei herum, die sich locker Bambi zum Mittagessen hätten einverleiben können.
Im Wohnzimmer erspähte ich weitere Filialen der Menagerie. Len hatte auf dem Couchtisch gerade noch ein wenig Platz für seine Fernbedienungen freischieben können, alles andere war von den Tieren besetzt. Marie sah sich auch als Malerin, deshalb waren die Wände mit selbstgemalten Bildern von Eulen und Elchen und Häschen vollgehängt.
»Len!«, rief sie noch einmal aus voller Kehle.
Eine Tür im Flur ging auf, und Len kam aus dem Keller. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass er viel Zeit dort unten verbrachte. Ich wusste, dass er da eine Werkstatt hatte und Möbel schreinerte.
»Ray ist gekommen!«, sagte Marie. »Ist das nicht nett?«
Ein kleines nervöses Lächeln zeigte sich auf Lens Gesicht. »Hallo«, sagte er. »Bist du allein da?«
»Ja«, sagte ich.
»Möchtest du Kaffee?«, fragte Marie. »Ich wollte gerade frischen machen.«
»Bloß keine Umstände«, sagte ich. »Ich wollte nur kurz mit Len reden.«
»Dann komm doch mit runter. Ich zeig dir, was ich gerade baue«, sagte er. Der Blick, mit dem er mich dabei ansah, sagte mir, dass er genau wusste, warum ich hier war, und dass er nicht vor seiner Frau darüber reden wollte.
»Gut.«
»Bist du sicher, dass du nichts willst?«, fragte Marie und folgte uns zur Kellertür.
»Wir sind wunschlos glücklich, Marie«, sagte Len und deutete mir mit dem ausgestreckten Arm vorauszugehen. Er schloss die Tür und folgte mir.
»Schöne Werkstatt«, sagte ich. Allem Anschein nach hatte Len in diesem gut beleuchteten Raum jedes nur erdenkliche Profiwerkzeug: Stichsäge, Standbohrmaschine, Drehbank, eine große Werkbank, einen Hochdruckstaubsauger. Eine Wand war vollgehängt mit Handwerkzeugen jeder Art. Am anderen Ende des Raums führte eine breite Treppe hinauf zu einer zweiflügeligen Kohlenklappe. So schaffte er die Möbel also aus dem Keller. Nirgendwo entdeckte ich auch nur ein Körnchen Sägemehl. Allerdings sah ich auch nirgendwo ein Werkstück in Arbeit. Keine Stuhlbeine oder Schubladen oder Schranktüren warteten darauf, zu einem Möbelstück verarbeitet zu werden.
»Ich hab’s gern ordentlich«, sagte Len.
»Woran arbeiten Sie denn gerade?«, fragte ich. »Hier sieht’s doch reichlich aufgeräumt aus.«
»Im Moment an nichts«, sagte Len. »Ich dachte nur, du wolltest unter vier Augen mit mir reden.«
»Thomas hat mir von dem gestrigen Vorfall erzählt«, sagte ich. »Ich wollte Genaueres hören. Anscheinend hat Thomas Sie geschlagen.«
Len berührte seine Wange. »Ja. Na ja.«
»Tut mir leid. Das hätte er nicht tun dürfen.«
»Er kann wahrscheinlich nichts dafür«, sagte Len. »Verrückt wie er ist.«
»Er ist nicht verrückt«, entgegnete ich. »Er hat eine psychische Störung. Das wissen Sie ganz genau.«
»Ach, komm, Ray. Das ist doch nur eine nette Art zu sagen, er ist verrückt wie ein zweiköpfiges Huhn.«
Ich spürte ein Kribbeln im Nacken. »Was ist genau passiert? Als Sie bei uns waren?«
»Ich hab reingeschaut, weil ich wissen wollte, wie ihr Jungs klarkommt, weil euer Vater gewollt hätte, dass ich das tu, aber du warst nicht da, nur Thomas. Er hat gesagt, du wärst in New York.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich wollte ihm eine Freude machen, das ist passiert.«
»Dann verstehe ich aber nicht, dass Thomas deswegen wütend geworden ist.«
»Ich wollte ihn nur –«
»Alles in Ordnung bei euch da unten?«, rief Marie von oben. Sie
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