Ferien mit Mama und andere Katastrophen
Hekate, schoss es mir durch den Kopf, Göttin der Totenbeschwörung. Sei nicht albern, versuchte ich mich zu beruhigen. Nicht mal kleine Kinder glauben an solchen Quatsch. Doch da kicherte es schon wieder. Nikos schien nichts gehört zu haben. Ich zeigte auf meine Ohren.
»Cicada«, meinte er schulterzuckend und nahm meine Hand.
So saßen wir eine Weile still nebeneinander. Irgendetwas krabbelte über meinen nackten Knöchel, doch ich wagte nicht, mich zu bewegen. Nikos streichelte gerade meinen kleinen Finger. Ich hielt die Luft an. Da nahm er sich auch die anderen Finger vor. War das das Paradies, mit weißen Marmorhäusern und Friedhofslichtern?
»Fürchten?«, flüsterte Nikos.
Ich schüttelte den Kopf. Fürchten war wohl nicht das richtige Wort. Ich rückte ein Stück näher an ihn heran. Tausend Meilen über uns donnerte ein Flugzeug über den Sternenhimmel und ich saß hier mit einem wahnsinnstollen Jungen, der genauso wenig Deutsch verstand wie ich Griechisch.
In diesem Moment kam ich auf die Idee, ihm trotzdem von mir zu erzählen. Wir konnten ja nicht ewig so stumm nebeneinander sitzen. Also erzählte ich von daheim und meiner Klasse, wo ich Klassenbeste bin, was aber keinen interessiert, weil ich noch nie einen richtigen Freund hatte, geschweige denn, schon mal einen geküsst. Und dass ich zu Hause um diese Zeit nicht mal vor die Tür darf und wir diese tolle Reise nur gewonnen hatten, weil Mama auf Hekate gekommen war.
Nikos wippte die ganze Zeit mit der Spitze seines Stiefels. Wer weiß, was er jetzt von mir dachte. Und dann küsste er mich einfach auf den Mund. Der Kuss schmeckte ein bisschen nach Mundwasser, Rauch und Straßenstaub, irgendwie verwegen. So hatte ich mir Küssen eigentlich nicht vorgestellt. Wir saßen jetzt beide so dicht nebeneinander, dass ich Nikos im Dunkeln atmen hörte, trotz der lärmenden Zikaden.
Und dann erzählte er mir etwas auf Griechisch. Keine Ahnung, was. Konnte man verliebt sein, auch wenn man den anderen gar nicht kannte?, fragte ich mich die ganze Zeit. Aber dann küsste er mich ein zweites Mal und ich wusste, man konnte.
Nun war auch dieses mulmige Gefühl aus meinem Bauch verschwunden. Denn jetzt sah ich, warum Nikos mich auf diesen Friedhof geschleppt hatte. Wahrscheinlich gab es auf ganz Kreta keinen schöneren Ort. Der Friedhof lag auf einem Berg, von dem man in eine weite Bucht hinunterschauen konnte, in der eine kleine Ortschaft hundertfach blinkte und funkelte. Wir hielten uns an den Händen und betrachteten still das funkelnde Lichtermeer.
Schließlich zog Nikos mich hoch und wir gingen auf den Grabplatten spazieren. Niemand durfte den Boden berühren, sonst war man tot. Komisches Spiel, dachte ich, als Nikos es mir mit Händen und Füßen erklärte. Ich musste die ganze Zeit kichern. Wenn uns hier jemand erwischte, gab das bestimmt Ärger. Doch es war einfach zu gruselig schön. All die flackernden Kerzen und Öllampen, die wankenden Schatten der Grabkreuze, wenn wir vorbeisprangen. Und die ganze Zeit hielt Nikos meine Hand.
Schließlich legten wir uns müde auf eine Grabplatte mit einem weißen Marmorengel. Irgendwo im Dunkeln bimmelten Ziegenglocken und der Wind klapperte dazu leise mit den Glastüren. So ein Urlaub steckt doch voller Überraschungen, dachte ich erschöpft. Wer weiß, was noch alles passiert. Seufzend schloss ich die Augen.
Irgendwann hörten wir ein paar Kirchenglocken schlagen. Es war mittlerweile zwei Uhr in der Früh und mir wurde doch ein wenig beklommen zumute. Hand in Hand gingen wir zurück zum Motorrad. Nikos sagte kein Wort, als er die Maschine startete. Er zeigte nur auf meinen Kopf. Das Tuch musste ich irgendwo auf dem Friedhof verloren haben. Aber das war mir in dem Moment egal.
Auf der Küstenstraße kam uns jetzt niemand mehr entgegen. Wir waren ganz allein. Müde schmiegte ich mich an Nikos’ Rücken und ließ mir den warmen Wind durch die Haare wehen. Das war wirklich das schönste erste Date, das man sich überhaupt vorstellen konnte.
Nikos setzte mich in der Nähe des Hotels ab. Ich dachte, wir würden uns zum Abschied noch einmal richtig küssen. Doch er schien es plötzlich eilig zu haben. Er nickte nur kurz, dann wendete er die Maschine und raste über die Küstenstraße davon.
Ich lief den schmalen Weg zum Strand hinunter und dann von dort in den Hotelgarten. Der Pool lag verlassen da, nur eine kleine Plastikente schwamm im Licht der Bodenfluter. Ich war so was von müde. Gut, dass ich die Leiter schon
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