Ferien vom Ich
Ärger bereite.
Solches und noch Ärgeres enthielt der Brief. Ich trug ihn zur Mutter.
»Lies den Brief!« sagte ich.
Sie schüttelte zornig den Kopf.
»Du mußt ihn lesen, Mutter«, sagte ich todernst und in hartem Befehlston.
Sie starrte mich an und wurde blaß.
Ich legte den Brief auf den Tisch und verließ das Zimmer.
Nach einer Stunde suchte ich die Mutter wieder auf. Sie lag auf dem Sofa und zuckte wie in Krämpfen.
»Liebe, gute Mutter«, sagte ich und streichelte ihren frühgebleichten Scheitel.
»Ändere es, Fritz«, sagte sie mühsam, »ändere es; tue, was du willst, aber ändere es - es ist entsetzlich!«
Schmerz und Grauen schüttelten sie.
Ich küßte ihr die Hand und sagte: »Ich fahre mit dem nächsten Zug nach Berlin.«
Der Zug rollte sein einförmiges Lied durch die ebene Landschaft. Es regnete fein, glitzernde Tröpfchen zittern an den Fensterscheiben und rinnen schließlich in schmalen Bächlein herab. Keiner meiner Fahrtgenossen spricht ein Wort. Mir ist das recht lieb. Ich bin in einer trostlosen Stimmung. Ferien vom Ich! Ein Erlösungswort für gequälte Menschen, eine Zufluchtsstätte für müde Herzen, eine friedliche Insel im brandenden Ozean, und ich der Lotse, der halb zerschellte Schiffe nach dem Hafen geleitet. Bitterer Spott über mich selbst quillt mir im Herzen auf. Wenn nun einer meiner Kurgäste mich einmal befragt: Wie bist du eigentlich dazu gekommen, solch ein Prophet des Friedens zu sein, wer lieh dir den Talar? Bist du selber so ein harmonischer Mensch, hast du gesiegt über die Unrast der Zeit und die Kämpfe deines eigenen Herzens? Hast du zunächst alle diejenigen, die dir durch verwandtschaftliche Bande nahestehen, so in den Frieden gerettet, daß du nun ausgehen kannst, um fremdem Volk zu helfen?
Oh, seht ihn nur an, den Propheten, den Friedensapostel! Seht nur, wie er im Eisenbahnwagen sitzt und endlich versuchen will, ein Kind, das ihm durch die Bande des Blutes ganz nahesteht, vor völliger Verwahrlosung zu retten; fragt ihn nur nach dem einzigen Bruder, der in Gram und Haß verschollen ist - fragt ihn nach all dem und wundert euch dann, daß dieser Mann einer großen Gemeinde freiwillig seine Bauhilfe anbieten will, während ihm der Regen und der Wind durch die Löcher seiner eigenen Giebel dringen. Wie ein Geistlicher ist er, der gegen die Sünde predigt und selbst ein arger Sünder ist, wie ein Richter, der einen Verbrecher straft und den selbst eine geheime Schuld drückt, wie ein Arzt, der andere dem Tode entreißen will und der selber dem Tode geweiht ist!
Berlin N. Eine der Proletarierstraßen, von denen jede einzelne mehr Einwohner hat als ganz Waltersburg. Fünfstöckige Häuser. Im Erdgeschoß Geschäfte mit billigen Waren, in jedem zweiten oder dritten Hause eine »Restauration«, in deren Fenster Würste hängen und Schnapsflaschen stehen. Auf den Bürgersteigen und dem Fahrdamm ein Gewühl schreiender, blasser Kinder. Schlechtgenährte Frauen, dicke Bierkutscher, schmale Schreiberlein, modisch, aber windig gekleidete junge Mädchen, schwatzende Weiber, mit Lastkarren daherkauchende Männer, hie und da ein Faulenzer, der zum Fenster herausliegt, die Arme auf ein Kissen gestützt und den Stumpfsinn in Reinkultur zeigt, Köter von unbestimmbarer Rasse, wie wahnwitzig schellende Straßenbahnen, Autos, Droschken, Lastwagen, Radler, dicke, stauberfüllte Luft, an jeder Straßenecke ein bärbeißiger Schutzmann
- Berlin N.
Das war das »Milieu«, in dem meine Nichte Luise bisher aufgewachsen war. Ich ging vom Stettiner Bahnhof aus auf die Suche nach ihrer Wohnung. An einer Straßenecke bot mir ein Kind Schnürbänder zum Verkaufe an. Ein kleines, blasses Mädchen war es. Ich sah sie an und trat einen Schritt zurück.
»Wie heißt du denn?«
Das Kind erschrak und sagte ängstlich: »Luise!«
»Wie heißt du noch? Wie ist dein anderer Name?«
Noch ein verängstigter Blick, und das Mädchen rannte, so schnell es nur konnte, davon. Ich fühlte es wie Lähmung in meinen Gliedern, aber ich eilte dem Kinde nach. Bei einer Tornische holte ich es ein und faßte es am Arm.
»Fürchte dich nicht, Luise. Ich tue dir nichts.«
Das Mädchen brach in Tränen aus.
»Sperren Sie mich nicht ein!«
»Warum soll ich dich denn einsperren?«
»Weil ich - weil ich - die Schuhbänder - Sie sind ein Geheimer . . .«
Das Kind weinte noch lauter.
»Hallo! Seht nur da! Was hat denn der mit dem Mädel? Warum weint denn det Mädel? Haut ihn! Das is so eener! Wird
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