Ferien vom Ich
nicht zu sprechen; denn ich bin ein anständiger Mensch!«
Die Tür fiel ins Schloß. Ich blieb allein stehen; ich fürchtete, nun würde die kleine Luise drin zu schreien anfangen. Aber es blieb still. Nur eine Tür krachte noch zu. Da eilte ich die schmutzige Stiege hinauf.
Samariterdienste
So lebte das einzige Kind meines Bruders! In einer Umgebung von Schmutz, Heuchelei, Armseligkeit und Roheit. Ein Glück, daß dem Weltverbesserer doch noch das Kehren vor der eigenen Tür einfiel, ehe er an die große Mission ging, anderen zu helfen. East in jeder Familie gibt es einen, auf den sich die anderen ganz besonders verlassen, zu dem sie in ihren Kümmernissen und Nöten kommen, dem sie es überlassen, zu ordnen, was sie selbst schlecht gemacht haben, der Geld borgen muß, wenn die andern nichts haben, der immer schieben, immer unterstützen, immer aushelfen muß. Den Starken als Stütze der Schwachen kann man ihn nennen, wenn man es ideal ausdrücken will; sonst kann man auch kurz sagen: der Lastesel. Nachgerade kam es mir vor, als ob ich in unserer Familie diesen Ehrenposten bekleidete.
Ich kann nicht behaupten, daß ich mit Freundlichkeit an meinen Bruder dachte, als ich durch den Staub des Hofes nach der Straße zurückflüchtete. Was an diesem Kinde geschah, war jahrelange Sünde. Auch an die Mutter dachte ich nicht ohne Bitterkeit. Sie war in diesem Augenblick nicht mein silbernes Mütterchen, sie war eine reine, aber selbstgerechte Frau, die nicht stark genug war, der Schuld mit Herzenstapferkeit ins Auge zu sehen und auf dem Schlachtfeld der Sünde Samariterdienste zu tun, sondern eine, die sich ängstlich in ihrer wohlumhüteten Sauberkeit hielt, mehr bekümmert um sich selbst als um das, was draußen zugrunde ging. Jawohl, ich hatte nicht Lust, das alles so hinzunehmen, ich wollte meine Meinung sagen. Was sollte ich denn tun, ich einzelnstehender Mann? Es würde schwer genug halten, das Kind loszubekommen. Der ekle Kerl von Pflegevater war zum gesetzlichen Vormund und Pfleger bestellt, die Erziehungsrechte waren an ihn abgetreten. Um ihm das Kind in Güte gewissermaßen abzukaufen, dazu fehlte mir das Geld. Mit gesetzlichen Mitteln aber so einem abgefeimten Schuft an den Leib zu gehen, würde schwer genug sein. Das nächste war, einen Anwalt zu befragen.
In meinem Hotel suchte ich das Lesezimmer auf, setzte mich in eine Ecke und grübelte. Ich mochte wohl schon lange so gesessen haben, da tippte mich jemand auf die Schulter. »Sie sollten mal Ferien vom Ich machen, Sie haben es nötig!«
Es war Mister Stefenson, der also zu mir sprach. Ich war ganz erstaunt, ihn so plötzlich hier in Berlin zu sehen. »Ferien vom Ich sollten Sie machen!« wiederholte er.
»Von wem erfuhren Sie denn, daß ich hier bin? Von meiner Mutter?«
»Von wem anders sollte ich es wissen? Sie sind in Familienangelegenheiten hier - wegen einer kleinen Nichte - wollen sie in eine andere Pension bringen - ja, lieber Doktor, das gefällt mir nicht!«
»Was gefällt Ihnen nicht?«
»Daß Sie Ihre Zeit mit solchem Familienkrimskram vergeuden.«
»Erlauben Sie, das ist wohl doch meine Sache.«
»Ihre Sache und meine Sache. Sie haben jetzt keine Zeit für solche Dinge. Es paßt nicht in unser Programm. Sie haben selber gesagt, zu unserem Ferienheim gehöre vor allen Dingen die Erlösung von drückenden familiären Fesseln. Ist das keine Fessel, die Sie am Fuß schleppen? Jetzt, wo wir in der allerschwersten Gedankenarbeit stehen müßten, fahren Sie einem kleinen Mädchen nach. Was liegt der Welt an dem kleinen Mädel? An Ihrem Ferienheim soll ihr etwas liegen.«
»Ich glaube, Herr Stefenson, so eng sind wir denn doch noch nicht miteinander verbunden, daß Sie in dieser Weise mit mir reden dürfen.«
»Ich darf«, sagte er phlegmatisch. »Ich habe in Ihnen so etwas wie einen Propheten gesehen - die Propheten gehen aber in die Wüste, ehe sie öffentlich auftreten, nicht nach Berlin -die Apostel verlassen Weib und Kind - der Soldat, der in den Krieg zieht, darf nicht rückwärts schauen, er sagt: Was schert mich Weib, was schert mich Kind? Der Familiensimpel bleibt immer ein mittelmäßiger Kerl.«
Ich erhob mich und wollte ihm grob kommen. Aber ich setzte mich wieder, sah auf einen Augenblick in seine ehrlichen, quellklaren Augen und sagte dann: »Sie haben vielleicht in manchem recht, Mister Stefenson, aber im ganzen sind Sie doch im Unrecht. Wenn ein Soldat in den Kampf ziehen soll und am Fuß eine Beule hat, wird er danach
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