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Ferien vom Ich

Ferien vom Ich

Titel: Ferien vom Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Keller
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auf ehemaligem Waltersburger Grund und Boden abermals ein neues Gemeinwesen auftun, das den Bestand Waltersburg verkürzte und die eigene Stadt in immer kümmerlichere Unberührtheit drängte. Waltersburg war wie eine Mutter von mittelmäßigen Anlagen, die sich ärgert, wenn ihre Töchter in der Gesellschaft Glück haben.
    Eitel waren die Waltersburger immer. In der Pfarrkirche ist ein Altarbild, das angeblich von Tintoretto stammt. Ein begüterter Graf, der ehemals hier residierte, soll es von einer Pilgerfahrt mitgebracht haben. Die Echtheit des Bildes ist zweifelhaft, nur nicht für die Waltersburger, die das Gemälde zu den Meisterwerken Tintorettos rechnen. (Tintoretto, »das Färberchen«, hat bekanntlich neben ausgezeichneten Stücken viel Mittelmäßiges, ja Schleudriges geleistet.) Als ein großes neues Reisehandbuch erschien, waren die Waltersburger neugierig, ob ihr Tintoretto zwei Sterne oder nur einen haben werde. Die Enttäuschung war groß; denn ganz Waltersburg mitsamt seinem Tintoretto wurde in dem Handbuche überhaupt nicht erwähnt. Der Schrei der Empörung, den damals der gebildete Teil der Stadt ausstieß, hat noch heute ein Echo in vielen Herzen.
    Für uns kam bald der Umschwung. Stefenson berief eine Versammlung nach dem Saale des größten Waltersburger Hotels, den »Drei Raben«. Er lud zu dieser »freien Zusammenkunft, in der er Aufschlüsse über seine Neugründung geben werde«, nicht nur den Magistrat und alle Honoratioren mit ihren Damen, sondern auch je einen Schuster, Schneider, Bäcker, wie alle anderen Handwerkszweige mit ihren Frauen. »Es muß wie bei der Arche Noahs sein«, sagte er gut-gelaunt, »von jeder Art ein Pärchen.« Der Erfolg war schwach. Einzelne zwar priesen Herrn Stefenson wegen seiner gerechten unparteiischen Art, aber andere rümpften außerordentlich stark die Nasen, und als die Versammlung begann, zeigte es sich, daß fast keine Frauen da waren. Die Frau Provisor und die Frau Kanzleirat hatten entrüstet erklärt, man könne sich doch nicht mit Krethi und Plethi zusammensetzen, und fast alle anderen »Damen der Gesellschaft« hatten sich dieser Auffassung angeschlossen. Die Weiber der Handwerksleute aber hatten sich »geniert«, zu kommen. Aber auch die Männer waren nur in schwacher Anzahl erschienen. Der Magistrat ließ sich durch einen Beisitzer vertreten. Am meisten freute es mich, daß der Lehrer Herder da war. Er wurde auch zum Leiter der Versammlung gewählt. Stefenson hielt eine Rede. Er spricht die deutsche Sprache ohne jeden fremden Akzent. Denn nicht nur seine Mutter ist eine Deutsche gewesen; ich habe unterdes herausgekriegt, daß Stefensons Vater zwar ein Stockamerikaner von reinster Monroedoktrin war, daß aber sein Großvater bis zu seinem dreißigsten Lebensjahre in Hamburg gelebt hat und bis dahin Georg Stefan hieß. Stefenson hat ein deutsches Blut in sich.
    Der »Mister« sprach. Er sagte, über die Idee seiner geplanten Kuranstalt wolle er nicht reden; diese sei ein so unerhörtes geniales Problem (dabei trat er mich grob auf den Fuß), daß er es im Rahmen einer so kurzen Aussprache nicht erläutern könne. Waltersburg habe zwar keine hervorragend günstige Lage und werde von vielen anderen Orten auch durch den Reiz der Umgebung wesentlich übertroffen (Gebrumm in der Versammlung), aber sein Freund und ärztlicher Beirat sei ja, wie alle wüßten, ein Waltersburger Kind, und so habe er dem Freund zuliebe dieses Gelände für die Ausführung seiner Idee gewählt. Er gehöre zu den Leuten, die sich eher das eigene Hemd ausziehen, als daß sie zugeben, daß der Freund friere. (Frau Postschaffner Hempel verließ entrüstet das Lokal.) »Kommen Sie gut nach Hause, Frauchen!« ruft ihr Stefenson nach. (Abermaliges Gebrumm. Postschaffner Hempel erhebt sich, sagt in halblauter Entrüstung: »Das ist ja kolossal!« und stampft seiner Ehehälfte nach.) »Also«, fährt Stefenson ruhig fort, »was mir eine Hauptsache zu sein scheint: ich beabsichtige nicht, eine neue politische Gemeinde zu gründen; ich werde meine Siedlung unter den amtlichen Schutz des Magistrats von Waltersburg stellen. (Freudige Verblüffung. Der Beisitzer horcht auf und trommelt erregt mit den Fingern auf den Tisch.) »Ja«, geht Stefensons Rede weiter, »wir werden unserem Sanatorium, das seinesgleichen in der Welt nicht hat, den Namen >Kuranstalt Waltersburg: Ferien vom Ich< geben, und der Schnickschnack von sogenanntem modernen Badeort, wie es Neustadt ist, wird in Dunst

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