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Ferien vom Ich

Ferien vom Ich

Titel: Ferien vom Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Keller
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zerstieben vor der glorreichen Waltersburger Neugründung. (Der Beisitzer springt auf, beurlaubt sich bei dem Vorsitzenden auf wenige Minuten und stürmt aus dem Saal.) Mitbürger von Waltersburg! Damen und Herren! (Von den Damen ist nur noch die phlegmatische Gärtnersfrau Bächel anwesend.) Es macht mich glücklich, daß Sie in solcher Anzahl erschienen sind. Etwas Erfreuliches kann ich Ihnen mitteilen. Ich erwarte, daß binnen zwei Jahren unsere Kuranstalt etwa zwei Dritteile Ihrer gesamten Gemeindesteuern tragen wird, so daß bisherige hundertzwanzig Prozent auf vierzig Prozent herabsinken werden. (Erschrecktes Aufatmen, dann lautes Bravo. Bäckermeister Schiebulke und Klempner Geldermann stürzen im Geschwindschritt von Siegesboten auf die Straße.) Ja, aber, meine teuren Mitbürger, auch Opfer werde ich von Ihnen verlangen müssen. (Kunstpause des Redners. Bedrücktes Schweigen der Zuhörer.) Wir haben nicht Zeit, der Verwirklichung unserer Idee sehr viel Zeit zu widmen; wir müssen die Aufgabe im Sturme nehmen. Binnen Jahresfrist muß alles fix und fertig sein. Sie werden begreifen, daß dafür ein Heer von Architekten, Bauleitern, Maurern, Zimmerleuten, Tapezierern, Töpfern, Tischlern, Glasern, Klempnern, Schmieden, Schlossern, Stubenmalern, Gärtnern und Hilfsarbeitern aller Art nötig sein wird, nicht zu rechnen die Legion derer, die diese Schar versorgt mit Nahrungsmitteln, mit Kleidern, Schuhen, Mützen und Wäsche. Ja, liebe Waltersburger Mitbürger, Ihre ganze prächtige Kaufmannschaft, alle Ihre Handwerkerkreise muß ich mobil machen, alle werden ihren Betrieb verzehnfachen müssen . . .« Der Redner hielt inne; die Erregung stieg aufs höchste. Da kam die von Stefenson ganz leichthin gesagte, aber treffende Schlußbemerkung: »Ich möchte mit Waltersburger Bürgern Abkommen treffen. Was das Finanzielle anbelangt, so wird nichts auf Ziel entnommen, sondern alles immer sofort bar bezahlt werden.« Da war es aus. Alles erhob sich; ein Handwerker stieg auf einen Stuhl: »Das ist gut!« rief er; »das ist famos! Herr Stefenson lebe hoch!« - »Hoch!« schrien die paar Männlein, die noch da waren. Im selben Augenblick stürzte der Beisitzer in den Saal.
    »Der Herr Bürgermeister«, keuchte er, »der Herr Bürgermeister, der bis jetzt leider verhindert war, kommt selbst.« Stefenson nickte ihm lächelnd zu. Da wurde es lebhaft auf der Treppe, Männer und Frauen aller Gesellschaftsschichten füllten den Saal. Eine halbe Stunde lang stand Stefenson steif und still, und als alle da waren, auch der Bürgermeister, sagte er: »Ich habe dem, was ich vor Ihnen, sehr geehrte Herrschaften, über meine Neugründung heute ausgeführt habe, nun nichts mehr hinzuzufügen.«
    Worauf sich der Leiter der Versammlung, Lehrer Herder, erhob und in glänzender Erfassung der Situation sagte:
    »Ich schließe die Sitzung!«

Die »Neustädter Umschau«

    In Neustadt erscheint ein Blättchen, die »Neustädter Umschau«. Es kommt wöchentlich zweimal heraus in einem Umfang, daß eine einzige Nummer genügt, ein Butterbrot gut zu verpacken. Als der Verleger einen neuen Redakteur suchte, versprach er ein Monatsgehalt von sechzig Mark. Es meldeten sich drei Doktoren, sechs Referendare, zwanzig Studenten, sieben ehemalige Lehrer, ein »sehr gebildeter« Schlossermeister, davongejagte Seminaristen, freie Schriftsteller und ein paar schwankende Gestalten. Der Verleger wählte von der ganzen Rotte den Unfähigsten, einen herabgekommenen, versoffenen Kerl, der aber Doctor juris war, was in der »Umschau« mit Fettdruck angezeigt wurde. Dieser Mensch macht die »Umschau« in der Art, daß er in seiner nüchternen Tagesstunde, die vormittags nach seinem jeweiligen Aufstehen liegt, im Lesesaal des Neustädter Kurhauses den Stoff für die nächste Nummer aus großstädtischen Zeitungen abschreibt. Einen lokalen Teil hat die »Umschau« kaum; jedenfalls war er stets jämmerlich. Desto mehr fiel es auf, als das Blatt auf einmal recht flotte, wenn auch dreist geschriebene Artikel gegen unser Waltersburger Ferienheim brachte.
    Der erste Artikel beschäftigte sich mit mir. Es wurde darin ausgeführt, daß ich nach meiner Promovierung (die, wie man erfahre, nicht ohne gewisse Schwierigkeiten vor sich gegangen sei) eiligst das Vaterland verlassen habe, um auf allen Meeren und unter allen Breitengraden der leidenden Menschheit meine ärztliche Kunst angedeihen zu lassen. Das einzige Leiden, mit dem ich zu tun gehabt hätte, wäre die Seekrankheit

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