Ferien vom Ich
rote Rose! Ihre Sternenaugen grüßten mich wieder so freundlich, und ich glaubte, zu ihrem Herzen würde ich den Weg wohl leichter finden als zum Herzen dieser stolzen Eva. Und sah doch wieder zu dieser Eva hin.
Nun sollte zur Abendmahlzeit gerufen werden. In anderen Höfen geschah es durch eine Glocke. Hier im Forellenhof trat Emmerich mit seiner Leibgarde auf. Vier Mann, zwei mit Becken, einer mit einer Trommel, einer mit einer Pauke. Dieser Tischruf war so gewaltig, daß die Leute drunten in Waltersburg wußten, wann im Forellenhof gegessen wurde. Damit aber auch der lyrische Teil dieser Emmerichschen Kunstleistung nicht fehle, wurde ein Kanon gesungen, den Emmerich gedichtet und komponiert hatte:
»Lobt den Herrn, hat’s zu bedeuten,
Wenn zur Ruh die Glocken läuten,
Doch dabei nicht zu vergessen,
Kommt zum Essen! Kommt! Kommt!«
Die vier Sänger sangen diesen Kanon mit tiefem Gefühl. Bald sammelten sich die Abendgäste an der großen Tafel im Garten. Emil Barthel saß an der Spitze und präsidierte. Es gab Bratkartoffeln, Milch, "Weißkäse, Butter und Brot, grünen Salat, frische Kirschen und Haselnüsse. Dieses »Abend-Menü« hatte ich glatt von Lahmann im »Weißen Hirsch« übernommen, weil es kein besseres gibt.
Piesecke behauptete, wenn er Milch, Kirschen, grünen Kopfsalat und Weißkäse zusammen äße, bekäme er auch zusammen die Ruhr, den Typhus und die Cholera. Er war deshalb mit noch einem anderen Kurgast an einen Extratisch gesetzt und bekam besondere Kost. Nach vierzehn Tagen, als Piesecke sah, daß die Gäste am »Normaltisch« sich sehr wohl fühlten, wurde er seiner Einsamkeit überdrüssig und verlangte zu den anderen.
Ich aß an diesem Abend mit im Forellenhof, und ich hatte große Freude, zu sehen, wie herrlich es den Leuten schmeckte. Auch die Tischgespräche, die geführt wurden, gefielen mir. Weit weg war alles gespreizte, verlogene Getue, weit weg alles Phrasengeklingel, alles ästhetisierende Jongleurtum, alle pseudophilosophische Geistreichelei, jede auch noch so versteckte Prahlerei mit wirklichen oder vermeintlichen Werten aus dem früheren Leben.
Der dicke Franzel erzählte dem dürren Heinrich (einem Zoologen aus München), daß er drei Maulwürfe erlegt habe, worauf Heinrich entrüstet erklärte, das sei eine ungeheure Dummheit, da der Maulwurf als Insektenvertilger und nachweislicher Nichtpflanzenfresser niemals ein Würzelchen der Wiese, dagegen aber täglich soviel schädliche Engerlinge verspeise, wie er selbst schwer sei. Vater Barthel, zum Schiedsrichter angerufen, entschied: »Den Büchern nach ist der Maulwurf sehr nützlich, aber dem Bauernverstande nach schlagen wir ihn tot. Von wegen seiner Haufen!« Heinrich zuckte die Schultern und sagte, es werde wohl auch in diesen finsteren Aberglauben noch einmal Licht kommen. Vom Ausroden zweier Weiden erzählte einer, vom Pflanzen von Sellerie ein Mädchen, von der Aussaat von Winterrettich und Wirsing eine andere. Die meisten sprachen von der lustigen Heuernte, von dem rotblühenden Kleefeld oder von dem Wiesenwässerlein, über das eine neue, schmale Brücke mit einem birkenen Geländer gelegt worden war. Bäuerliche Themen, manchmal mehr altklug behandelt, wie Kinder schwätzen, als wirklich erfahren, wie Vater Barthel war, der aber sehr wohlwollend alles anhörte. Weil es an St. Barnabas geregnet habe, erklärte ein Rheinländer, würden die Trauben dieses Jahr von selbst ins Faß schwimmen, und wie das Wetter am Johannistag sei, so würde es bis Michaeli sein, behauptete ein anderer. Ich sah mir die Leute an, die so sprachen. Sie gehörten alle zu den gebildeten Schichten der Bevölkerung. Würden sie je in ihrem eigenen Leben solche Unterhaltungen führen, so wären sie Sonderlinge, als komische Käuze, vielleicht als albern gebrandmarkt. Hier wären sie lächerlich, wenn sie von hoher Politik, von gesellschaftlichen Ereignissen und Beziehungen, von künstlerischen oder philosophischen Streitfragen zu reden begännen.
Diese Leute haben wirklich alle Ferien vom Ich gemacht. Und ich sehe, daß ich meine Idee nicht bis in die Einzelheiten selber auszudenken brauche; hier dichten alle mit an dem großen Sturmlied, das wir gegen den Jammer unseres modernen Lebens anstimmen wollen; hier hilft jeder bauen an der Brücke, die über den Strudel der Zeit zu dem stillen Eiland des Friedens führt, hier stützt einer den andern. Betrachtet den Soldaten, der schwer beladen sein junges Leben in täglich vielstündigem
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